Schön dass es euch gefällt! Eine kurze Unterbrechung von Elisabeth, heute geht's zum Vorsingen! Viel Spaß
Lindas erstes Vorsingen fand, was praktischer nicht sein konnte, in Essen statt. Sie bewarb sich für den Bachelor of Arts, für den jährlich sechs Schüler aufgenommen wurden. Die Chancen waren, wie ich feststellte, verschwindend gering. Ich las mich auf der Homepage ein, um zu wissen, was es vorzubereiten galt: zwei „kontrastierende“ Songs, davon mindestens einer in Deutsch und vorzugsweise aus dem Musicalbereich sowie ein Tanz-Gruppentraining in klassischem, modernem und Jazz-Tanz. Das war nur die erste Vorauswahl.
Am selben Tag, in der Zwischenprüfung, erwartete man eine Wiederholung der Songs sowie das Vorspielen zweier Rollen, davon eine klassisch. Ich hatte keine Ahnung, wofür Linda sich entschieden hatte. Ich wusste überhaupt nicht, wie gut sie im Schauspiel war, in welchen Bereichen sie sich auskannte. Ich bemerkte, dass ich nicht mal selbst eine klassische Rolle hätte vorschlagen können, die zu ihr passte.
Ich war vermutlich die schlechteste Mentorin der Welt. Und ich war um Meilen aufgeregter als sie selbst, als ich sie am Bahnhof abholte und sie noch im Bus mit Fragen überhäufte.
„Linda, ich habe das Gefühl, dass ich dich vernachlässigt habe!“
„Unsinn, wieso denn?“
„Na ja, ich weiß ja schließlich von nichts, welche Rollen du zum Beispiel vorspielst, welche Songs du singst, haben wir überhaupt genug gelernt? Bei wem hast du gelernt?“
„Es ist alles in Ordnung, Anouk“, beruhigte sie mich –
sie mich – „ich habe gearbeitet und Gesangsstunden genommen. Ich habe sogar getanzt. Jazz.“
„Okay, okay.“ Sie war nicht genug vorbereitet. Ich stellte mir schon die ganzen anderen jungen Bewerber vor, drahtige Ballerinas, Operndiven, Schauspielphänomene!
„Das mit den Rollen war schon etwas schwierig“, gab sie zu, „aber ich habe mich informiert und schlau gemacht. Ich spreche
Salomé und
Gebrüllt vor Lachen. Ich kann sie dir vorspielen.“
„Und welche Songs?“
„
Lass mich dich nicht lieben aus Dracula, und
I have confidence aus Sound of Music.“
„Wenn das nicht kontrastierend ich“, murmelte ich.
„Und zur Vorsicht noch
Tot zu sein ist komisch“, lächelte sie. Ich sah sie von der Seite an.
„Irgendwie wirkst du mir zu entspannt“, sagte ich. Sie lachte.
„Ja, irgendwie… bin ich das auch. Noch“, fügte sie hinzu.
Lindas „noch“ war nicht gelogen: als ich am nächsten Morgen von meinem Wecker aus dem Schlaf gerissen wurde, hörte ich ihre Stimme schon aus einiger Ferne; sie schien sich im Badezimmer einzusingen, das Zimmer, das am weitesten von meinem Schlafzimmer entfernt war. Die Couch, auf der sie übernachtet hatte, war aufgeräumt, die Decken zusammengelegt und die Kissen aufgeschüttelt. Ihr Frühstücksgeschirr steckte in der Spülmaschine, der Tisch war nur für mich gedeckt. Auf der anderen Tischseite standen eine gepackte Tasche, ein Paar weißer Riemchenschuhe und eine rote Mappe. Ich setzte mich hin und aß eine Kleinigkeit, bis Linda aus dem Bad kam. Sie trug eine elegante Bluse und eine schwarze Hose und hatte ihr schwarzes Haar zurückgesteckt.
„Du siehst toll aus!“, sagte ich.
„Ich fühle mich schrecklich!“, erwiderte sie und ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. „Ich bin schon seit einer Ewigkeit wach.“
„Hast du wenigstens genug gegessen?“
„Hm“, machte sie nur. Ich packte ihr einen Apfel und ein Croissant in eine Brotdose und legte sie neben ihre Tasche. „Hast du alles eingesteckt?“
„Meine Notenblätter, Liedtexte, Monologtexte, ein Kostüm für Salomé, Sportsachen, viel zu trinken… etwas zu Essen jetzt auch… Playback, falls der Pianist krank ist…“
Ich lachte. „Okay, du hast an alles gedacht. – Ich mache mich jetzt flugs fertig, und dann sind wir auch schon auf dem Weg, in Ordnung?“
„Ja“, hauchte sie.
Ich wusste nicht, ob ich etwas aufregendes verpasst hatte oder etwas schrecklichem entronnen war. Zuerst hatte ich auf die erste Version getippt, aber als das Warten auf die nächste Runde begann, wurde ich immer dankbarer, dass mir dieses Vorsprechen erspart gewesen war: damals hätte ich wohl kaum die Nerven gehabt, an einer Schule wie dieser Vorzusingen. Gleichermaßen kam mir mein Stipendium irgendwie unfair vor – als hätte ich geschummelt und grinste nun allen frech ins Gesicht: ihr lieben Kleinen, viel Erfolg – kämpfen musste ich nicht. – Aber nein, das stimmte nicht ganz – der eigentliche Kampf begann schließlich erst so richtig auf der Schule und gipfelte im eigentlichen Berufsleben zu einem ständigen Ringen mit Konkurrenten.
Jetzt warteten wir nach der ersten Runde auf den Aushang, der verkünden würde, welche Nummern es in die nächste Runde geschafft hatten. Linda saß stumm neben mir und hatte ihr Nummernzettelchen schon so oft zwischen den Fingern gerieben, dass es ganz knittrig an ihrem Kragen hing. Als ich sie gefragt hatte, wie es war, hatte sie mit den Schultern gezuckt. „Die Songs waren gut, glaube ich. Niemand hat etwas dazu gesagt. Das Tanztraining war schrecklich, im klassischen Tanz bin ich gar nicht richtig mitgekommen.“
Als es soweit war, brachen schon die ersten in Tränen oder böses Fluchen aus, bis ich Lindas Gesicht in der Masse ausmachen konnte. Sie reckte den Daumen nach oben, und ich strahlte zurück. Es blieb kaum Zeit, sich ein wenig auszuruhen; schon fünfundvierzig Minuten später ging es in die nächste Runde. Wir gingen in aller Eile die Monologe durch, aber ich wagte kaum, ihr Tipps zu geben aus Angst, sie könnten sie verwirren oder verunsichern.
Ich zwang mich, nicht auf Linda zu warten, sondern verließ mit dem enttäuschten Rest Jugendlicher das Gebäude und setzte mich in ein Café. Ich telefonierte mit Liam und hörte nach, wie es bei den Proben lief, aber er sagte, es sei nicht so toll wie er es sich erhofft hatte und dass es irgendwelche rechtlichen Verstrickungen gab, die übersehen worden waren. Meine Stimmung wurde etwas gedämpft, und als ich zurück zu Linda ging, lehnte sie schon an der Mauer des Gebäudes und hielt das Gesicht in die Sonne, die Augen geschlossen. Ich tippte sie vorsichtig an.
„Linda?“
Sie schlug die Augen auf und lächelte. „Ja?“
„Was… was ist nun? Ist die Runde um?“
„Ja.“ Sie atmete tief ein. „Aber ich hab’s nicht geschafft.“
„Wirklich? Oh nein… Hat jemand gesagt, warum?“
„Das Spiel hat ihnen gefallen, und der Gesang auch, denke ich. Es war bestimmt der Tanz.“
„Das tut mir so leid!“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe nicht damit gerechnet, bei der ersten Schule genommen zu werden. Das ist doch eher unüblich, oder?“ Schwungvoll stieß sie sich von der Mauer ab. „Komm, ich brauche jetzt dringend einen langen Spaziergang.“
Ich hakte mich bei ihr unter, und wir gingen gemeinsam durch die späte Nachmittagssonne, und niemand verlor mehr ein Wort über diese erste Niederlage.