Und hier auch mal wieder ein neuer Teil
Viel Spaß!
5. Kapitel: So wie man plant und denkt...
»Rike!« Mike sprang aus dem Bus und lief, ohne zur Seite zu schauen, quer über die Straße auf mich zu. Mehrere Autos mussten stark bremsen und hupten entrüstet, aber Mike kümmerte sich nicht darum.
»Erzähl schon, wie war das Casting?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Weiß nicht. Ich war ziemlich nervös, und eine Frau aus der Jury war ganz schön fies, aber ich denke, die meisten Töne hab ich getroffen. Sehr falsch klang es jedenfalls nicht, und die Höhe war auch kein Problem, wie immer. Und, was hast du das Wochenende über so gemacht?«
»Keine Chance!« Mike schüttelte lachend den Kopf. »Du zuerst! Ich will jede Einzelheit wissen. Warst du am Anfang dran oder am Schluss? Hast du die anderen gehört, waren die besser oder schlechter? Warum war diese Frau so fies, was hat sie denn gemacht?«
Also legte ich los und erzählte jede Einzelheit, von Anfang bis Ende. Aber gerade als ich kurz vor Schluss angekommen war, stieß Marco zu uns und ich musste wieder von vorne anfangen. In der Vorlesung über Theaterwissenschaften diskutierte ich leise mit Marco die Einzelheiten aus, während Mike so nett war, mitzuschreiben. Ich könnte dann später aus den Notizen lernen.
In der Mittagspause traf ich auf Anna, die am Vormittag Einzelstunden in Gesang gehabt hatte, und musste auch ihr alles über das Casting erzählen. Inzwischen war ich schwer genervt und als auch noch Professor Allgaier nach dem Vorsingen fragte, antwortete ich unnötig knapp und er zog beleidigt ab.
Als eine weitere Freundin wissen wollte, wie es gelaufen war, stöhnte ich nur auf und ließ Mike erzählen.
»Das wird langsam echt nervig«, beschwerte ich mich bei Marco. »Jeder will wissen, wie es war, und jeder macht mir Mut. Langsam glaube ich wirklich, dass ich die Rolle bekomme.«
Marco zog die Augenbrauen hoch und sah mich fragend an.
»Hast du es vorher denn nicht geglaubt?«
»Ich weiß nicht. Ich habe es natürlich gehofft, aber irgendwie hatte ich schon ein komisches Gefühl... Vor allem wegen dieser Frau. Die hat mich echt angesehen, als hätte ich was mit ihrem Freund... Obwohl, ich bezweifle, dass jemand freiwillig mit der zusammen ist. Echt schrecklich, die Frau. Die kann einen psychisch ruinieren...«
In diesem Ton schimpfte ich noch eine Weile weiter über diese Frau.
»Wie sah die denn aus?«, fragte Anna plötzlich.
»Ich weiß nicht genau«, antwortete ich etwas verwirrt. »Naja, sie hatte dunkle Haare – lange Haare, aber nach hinten fest geknotet. Und so kalte Augen... Mittleren Alters, würde ich sagen, so etwa zwischen 40 und 50. Warum?«
Anna lächelte.
»Das könnte meine frühere Klavierlehrerin von der Musikschule sein.«
»Die Musikschule!«
Wir fingen gleichzeitig an zu lachen und Marco und Mike sahen uns irritiert an.
»Kann man helfen?«, fragte Marco vorsichtig, als wir uns nach fünf Minuten immer noch nicht beruhigt hatten. Aber seine Frage löste nur einen weiteren hysterischen Lachanfall aus.
Anna und ich fingen Arm in Arm an, leicht abgeändert den Prolog von Rebecca zu singen:
»Quietschende Flöten in schwarzen Fassaden, so geisterhaft und unnahbar... Fugen von Bach, vor denen wir floh´n...«
Vor Lachen konnten wir unsere Hymne nicht mehr fortsetzen.
Marco sah mich skeptisch an, aber Mike grinste jetzt ebenfalls.
»Wer von euch hat den Text umgedichtet?«
»Rate mal«, lachte Anna.
»Hm...« Er tat, als müsste er scharf nachdenken. »Ich glaube, es war Rike. Sei mir nicht böse, Anna, aber im Texte umdichten bist du wirklich nicht gut...«
»Richtig geraten!« Ich strahlte. »Vielen Dank für das Kompliment – ich entnehme deinen Worten mal eben, dass du den Text gut fandest...«
»Ja, allerdings.« Mike lachte. »Du solltest ihn nicht ins Original einbauen, aber als Hymne auf eine Musikschule ist dieser Text sehr passend.«
Ich schnitt eine Grimasse.
»Wenn ich die Rolle nicht kriege, werde ich eben Texterin.«
»Sei nicht albern, Rike, du kriegst die Rolle garantiert. Du hast doch so eine tolle Stimme... Und mit deiner Ausstrahlung kann es sowieso niemand aufnehmen.«
»Danke, Marco.« Ich lächelte.
Zu Hause angekommen sah ich als erstes, dass mein Anrufbeantworter blinkte – ich hatte eine neue Nachricht. Schnell drückte ich auf Abhören, warf mich in meinen Lieblingssessel und lauschte angespannt.
»Sie – haben – eine – neue – Nachricht«, leierte die Frauenstimme meiner Mailbox, während ich ungeduldig im Sessel auf und ab hüpfte. »Erste – neue – Nachricht – heute – 16:33...«
Ich erstarrte, als ich die Stimme der unfreundlichen Frau vernahm.
»Guten Tag Frau Müller, es geht um das Casting für die Tourproduktion des „Phantom der Oper“. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir die Rolle der Christine Daaé anderweitig besetzen konnten. Unsere Produktionsfirma stimmte allerdings darin überein, dass Ihre Ausstrahlung sehr gut ist und dass wir Sie für andere Produktionen im Auge behalten werden. Wenn Ihnen das nicht recht ist, wenden Sie sich bitte an unser Büro in Stuttgart. Auf Wiederhören.«
Wie betäubt saß ich im Sessel. Nachdem mich alle den ganzen Tag lang aufgebaut hatten, war ich so sicher gewesen die Rolle zu bekommen.
»Restspeicherzeit – fünf – Minuten«, sprach die monotone Frauenstimme. Automatisch drückte ich einen Kopf, ohne hinzusehen, welcher es war.
»Nachricht – gelöscht«, hörte ich noch, bevor ich mich in den Kissen vergrub und versuchte, einfach alles zu vergessen.