Genre: Übernatürlich, Angst
Rating: P16
Disclaimer: Pia gehört sich natürlich selbst, aber die fiktive Figur des Gabriel ist meine.
A/N: Seit längerem habe ich mich mal wieder an eine Geschichte im Musical- bzw. Darstellerbereich gewagt. Das Thema ist ziemlich verrückt, ich weiß. Es gibt dazu noch einen Oneshot mit dem Titel "Nacht", der bis dato bei FF.de zu lesen ist.
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Pia und der Wolf
von Sisi
von Sisi
Die Stadt schlief nie. Selbst weit nach zwölf fuhren vereinzelt Autos durch die Straßen und man begegnete dem einen oder anderen Nachtvogel. Die in Gedanken mitgezählten Schläge einer nahen Kirchenglocke erinnerten Pia daran, dass es selbst für jemanden, der es gewohnt war, abends lange wach zu bleiben, reichlich spät geworden war. Schuld daran waren ihre Kollegen, die sie dazu überredet hatten, in einer dem Theater nahen Kneipe noch einen Drink oder zwei zu nehmen. Just als sich die Runde aufgelöst und sie sich zum Gehen gewandt hatte, war dieser Mann vor ihr gestanden. Er hatte sie rundheraus gefragt, ob sie Lust hatte, ihm für einen Schlummertrunk an der Bar Gesellschaft zu leisten. Nicht aufdringlich, nur höflich und charmant. Am Ende war es nicht bei diesem einen Getränk geblieben, denn seine Aufmerksamkeit hatte ihr geschmeichelt. Während ihres Heimwegs dachte Pia noch über diese Begegnung nach. Trotz der ausgiebigen Unterhaltung wusste sie kaum mehr über Gabriel als beim ersten Blick in seine grauen Augen. Es spielte sowieso keine Rolle, da sie ihn wohl nicht wiedersehen würde. Sie hatten keine Nummern getauscht. Im Grunde gehörte er nicht einmal zu der Art von Männern, die sie anzog. Er war hochgewachsen, feingliedrig für einen Mann und bewegte sich geschmeidig wie ein Raubtier. Im spärlichen Licht wirkte sein heller Teint beinahe weiß. Das blonde schulterlange Haar trug er ansprechend zurückgebunden. Er war attraktiv, das konnte sie nicht leugnen.
Ein Taxi fuhr langsam an ihr vorbei, der Fahrer hoffte wahrscheinlich auf Kundschaft und beschleunigte erst nach einigen Metern unverrichteter Dinge wieder. Es war eine der ersten lauen Frühlingsnächste, in denen Pia es liebte, zu Fuß zu gehen. Die Müdigkeit in ihren Gliedern verleitete sie jedoch dazu, ihren Heimweg durch den Stadtpark abzukürzen, anstatt außen herum zu marschieren. Die Laternen, die die direkte Strecke zur anderen Seite säumten, spendeten ausreichend Licht und ließen die umstehenden Sträucher geisterhafte Schatten werfen. Irgendwo im Gebüsch pfiff eine verirrte Amsel. Pia war inmitten des Parks angelangt, von wo aus die Zugänge nicht zu erkennen waren, als sich aus dem Dunkel zwischen den Bäumen eine Gestalt löste und ihr den Weg vertrat. Es war ein Mann in einer Kapuzenjacke, vermutlich noch recht jung, doch sie konnte sein Gesicht nur erahnen. Mit einem unwohlen Gefühl in der Magengegend wandte sie sich um und erkannte zu ihrem Schrecken, dass er nicht allein war. Hinter ihr standen zwei weitere Männer.
„Na, was haben wir denn hier“, sagte der erste höhnisch. „Du bist in unserem Park, Baby.“
„Soweit ich weiß, ist das eine öffentliche Anlage“, erwiderte sie, um eine Festigkeit in der Stimme bemüht, die über ihr wirkliches Empfinden hinweg täuschen sollte. „Wenn ihr mich also vorbei lassen würdet.“
Der Mann vor ihr, der die Bande offenbar anführte, kam auf sie zu und in seiner rechten Hand blitzte etwas metallisch auf. „Das tun wir gern, wenn du uns schön dafür bezahlst. Los, gib dein Handy und dein ganzes Bargeld her!“
Er war jetzt nahe genug, sodass Pia deutlich das Messer sehen konnte, mit dem er sie bedrohte. Sie begann umständlich am Verschluss ihrer großen Tasche zu nesteln, was ihn dazu veranlasste, danach zu greifen, um sie ihr aus den Händen zu reißen. Doch sobald er in ihre Reichweite kam, rammte sie ihm die Tasche mit voller Wucht in die Seite, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und sprintete los. Die Zeit reichte jedoch nicht. Wutentbrannt stürzte er sich auf sie und riss sie zurück.
„Du verdammte kleine Ratte!“, schrie er sie an.
Blind vor Angst wehrte Pia sich gegen den Übergriff und versuchte den Mann von sich zu stoßen. Auf einmal erfasste ein scharfer Schmerz ihren Leib, als hätte man ihr eine brennende Fackel in die Eingeweide gerammt. Verwirrt hielt sie inne, tastete nach der Ursache und fühlte eine warme klebrige Flüssigkeit auf der dünnen Jacke. Der Angreifer taumelte erschrocken zurück, das blutige Messer noch in der Hand. Pia spürte ihre Knie unter sich nachgeben und sah den Boden auf sich zukommen.
„Scheiße“, fluchte einer der beiden anderen Männer. „Du Idiot hast sie umgebracht!“
Pias Welt rückte in weite Ferne. Dumpf hörte sie die Bande durcheinander schreien und dann noch ein anderes Geräusch, das wie das tiefe bedrohliche Knurren eines großen Hundes klang. Für einen Moment glaubte sie einen vierbeinigen Schemen über sich hinweg jagen sehen. Dann wurde es still. Die Männer schienen Hals über Kopf geflohen zu sein. Pia versuchte den Kopf zu heben, um zu sehen, wem der Hund gehörte, der die Angreifer offenbar vertrieben hatte, doch sie konnte sich kaum noch bewegen. Der Schmerz lähmte ihr Denken.
„Pia“, sagte eine Stimme eindringlich zu ihr.
Mühsam hob sie die Lider einen Spalt breit und bemerkte eine Gestalt, die sich über sie beugte. Es war der Mann aus der Bar. Gabriel. Sie versuchte ihn beim Namen zu nennen, doch über ihre Lippen kam nur ein heiseres Stöhnen. Ihr war eiskalt und sie hatte Todesangst. Mit dem Blut glaubte sie zu fühlen wie auch das Leben aus ihr herausfloss. Sie wollte nicht sterben! Doch nicht jetzt und nicht so.
„Sprich nicht“, wies Gabriel sie sanft aber bestimmt an. Hätte er ein Mobiltelefon besessen, hätte er einen Notarzt gerufen, doch er ahnte, dass selbst dieser ihr nicht mehr helfen würde.
Beliebte Musicaldarstellerin in der Nacht von unbekanntem Täter erstochen, würden die Zeitungen schlagzeilenheischend titulieren. Ja, er wusste wer sie war, kannte ihr Abbild von den Plakaten, die in der Stadt für ein Musical warben, doch deswegen hatte er sie in der Bar nicht angesprochen. Ihre Ausstrahlung hatte ihn fasziniert. Sie war eine schöne Frau. Ihr Lachen war hell und erfrischend, aber es umgab sie auch eine unbestimmte Melancholie. Er barg sie in seinen Armen und streichelte ihr behutsam über die dunklen Locken. Das Blau ihrer kaum noch geöffneten Augen war glanzlos. Ihre Kraft war fast aufgebraucht. Es gab eine letzte Möglichkeit, sie zu retten. Er vermochte ihr Leben zu bewahren indem er ihr ein neues gab. Es war ein Geschenk und ein Fluch zugleich. Noch nie zuvor hatte er diesen Schritt gewagt, aber jetzt fand er sich bereit dazu. Sie hatte es nicht verdient, so sinnlos zu sterben, hier an diesem dunklen Ort.
Pia konnte Gabriel nicht mehr sehen. Ihre klammen Finger versenkten sich im drahtigen Fell des großen Hundes, der behutsam einen Vorderlauf, an dem sich ein rotes Rinnsal zeigte, auf ihren Leib legte. Sie keuchte schmerzerfüllt auf. Wäre sie in der Lage gewesen, ihn zu sehen, hätte sie rasch erkannt, dass es sich nicht um einen Hund handelte. Der silberne Wolf blickte aus seinen unergründlichen bernsteinfarbenen Augen auf sie herab, während sich sein warmes Blut mit dem ihren vermischte. Szenen ihres rastlosen Lebens zogen in ihrem getrübten Geist vorbei. Im Moment, ehe ihr Herz den letzten Schlag zu tun vermochte, senkte der Wolf seine starken Zähne in ihr Fleisch.
Hörst du meine Stimme?
Die Worte schnitten durch die warme tröstliche Dunkelheit. Pia klammerte sich daran wie an ein Seil über dem Abgrund. Langsam, ganz langsam begann sie wieder Leben in sich zu spüren. Sie konnte frei atmen und mit jedem neuen Zug kehrte etwas von ihrer Kraft zurück. Der quälende Schmerz war verschwunden. War sie tot?
Es ist Zeit zurückzukommen.
Nein, sie fühlte sich zu lebendig um tot zu sein, befand sie. Versuchsweise hob sie erst einen Arm, dann den anderen und zum Schluss die Beine. Alle Gliedmaßen reagierten, aber die Bewegungen wirkten fahrig und grotesk. Schließlich wagte sie es zu blinzeln. Weißes Licht schien ihr ins Gesicht. Die Mondsichel leuchtete ungewöhnlich hell am Himmel. Nach und nach strömten die Erinnerungen des Abends auf sie ein. Die Bar. Gabriel. Der Überfall im Park. Sie befand sich immer noch an derselben Stelle des Weges, wo ihr die Männer aufgelauert hatten, doch etwas hatte sich drastisch verändert. Die Nacht wirkte heller, sie konnte die Sträucher und Bäume klar erkennen und hörte deutlich das Trippeln eines kleinen Vogels im Blattwerk. Dann sah sie den Wolf, der an sie geschmiegt dalag. Sie wollte aufschreien, doch aus ihrem Mund kam nur ein seltsam jaulender Laut.
Hab keine Angst. Du kennst mich.
Die Stimme klang wie Gabriels, doch sie hörte sie nicht wirklich. Die Worte formten sich in ihrem Geist. Der Wolf leckte ihr über die Schnauze und im selben Moment, indem sie begriff, dass sie eine Schnauze hatte, sah sie anstatt ihrer Hände große schwarze Pfoten. Das war unmöglich! Menschen verwandelten sich nur in dummen Gruselmähren in Wölfe, doch nicht im wirklichen Leben. Sie musste sich inmitten eines surrealen Traums befinden.
Ich werde dir alles erklären. Die Nacht ist bald vorüber, konzentrier dich auf deine menschliche Gestalt.
Sie tat wie geheißen. Ihr Name war Pia und sie war Sängerin. Sie hatte schon viele interessante Rollen auf den unterschiedlichsten Bühnen gespielt. Das war ihr Leben. Sie dachte mit aller Kraft an das Gesicht, das ihr aus Spiegeln entgegenzublicken pflegte. Die Frau mittleren Alters mit den dunkelbraunen Locken. Ja, sie war Pia. Sie spürte wie sich ihr Körper veränderte und vertraute Formen annahm. Als sie es endlich wagte, die Augen zu öffnen, hockte Gabriel lächelnd vor ihr.
„Du bist wieder du“, sagte er leise. „Aber der Wolf ist jetzt ein Teil von dir so, lange du lebst.“
Vollkommen verwirrt und hilflos starrte sie ihn an. „Ich träume das alles nur! Menschen können nicht zu Tieren werden, das ist unmöglich.“
„Ist es das?“ Er hielt ihr seine rechte Hand entgegen, die sich vor ihren Augen in eine silbergraue Pfote und wieder zurück verwandelte. „Ich habe dir den Wolf geschenkt, weil die einzige Möglichkeit dein Leben zu retten, darin bestand, dir ein neues zu geben. Wenn du bereit bist, mir zu vertrauen, kann dir beibringen damit umzugehen.“
„Habe ich eine andere Wahl?“ Pia gab ein resignierendes Seufzen von sich. Auch im Angesicht des Beweises vermochte sie das alles kaum zu glauben.
Gabriel schüttelte mit einem bitteren Lächeln den Kopf. „Ich befürchte nicht. Es ist gefährlich, solange du nicht gelernt hast, dich zu kontrollieren. Tagsüber schläft das Geschöpf in deinem Inneren, aber nachts drängt es nach Freiheit. Es ist stärker, je voller der Mond am Himmel steht. Du kannst es für eine Weile bändigen, das ist wichtig, um dir einen Ort auszuwählen, an dem dich niemand sieht. Wenn du den Wolf nicht freigibst und er übermächtig wird, bricht er aus, egal wo du dich aufhältst. Das darf nie geschehen, hörst du? Du musst dieses Geheimnis hüten bis zu deinem letzten Atemzug.“
„Aber ich dachte Wolfsmenschen wären nur Märchen“, sagte Pia voller Unglauben. „Erklärst du mir als nächstes, dass wir nachts herumziehen und Vampire bekämpfen müssen?“
Gabriel lachte amüsiert auf. „Vampire sind nichts als Horrorfantasien. Unsere Gegner sind die Menschen, die nicht so sind wie wir. Was glaubst du, was die mit uns anstellen würden, fänden sie je die Wahrheit heraus?“
„Ich bin so verwirrt, das ist alles zu viel“, murmelte sie erschöpft. Sie wollte nur schlafen und die Erlebnisse vergessen, die sie nicht verstehen konnte.
„Geh nach Hause und ruh dich aus.“ Er legte ihr aufmunternd die Hand auf die Schulter, was sie dazu veranlasste, den Kopf zu heben und ihm in die Augen zu sehen. „Ich erwarte dich morgen Nacht und dann werde ich dir zeigen, was es heißt, ein Wolf zu sein.“
Pia erhob sich wortlos und griff nach ihrer halb offenen Handtasche. Darin lag ihr Mobiltelefon und sie bedachte Gabriel mit fragender Miene. „Wie werde ich dich finden?“
„Du wirst es wissen, wenn ich in deiner Nähe bin. In deinen Gedanken kannst du mich hören und du wirst noch lernen mir ebenso zu antworten.“ Als er merkte wie zittrig und unsicher sie auf den Beinen war, bot er ihr seinen Arm zur Stütze an. „Wir sind verbunden, Pia, weil ich dich zu dem gemacht habe, was du jetzt bist. Du wirst mich in meiner Wolfsgestalt genauso erkennen wie ich dich in der deinen. Nach dieser Nacht dürfen wir uns als Menschen nicht mehr begegnen. Du bist Pia, du stehst auf Musicalbühnen im Beifall. Aber du bist auch die schwarze Wölfin. Es sind zwei Seiten derselben Wahrheit.“
Der Morgen dämmerte bereits als Pia endlich ihre Wohnungstüre hinter sich schloss. Gabriel hatte sie bis unten vors Haus begleitet. Sie war so erschöpft, dass sie sich voll bekleidet aufs Bett fallen ließ, sofort einschlief und erst um die Mittagszeit wieder erwachte. Die Erlebnisse der vergangenen Nacht erschienen ihr wie ein wirrer Albtraum, wäre der Pullover, den sie immer noch trug, nicht voll eingetrockneten Blutes gewesen. Ein kleines Büschel silbergrauen Fells haftete daran. Sie ging ins Bad, um sich eine ausgiebige heiße Dusche zu gönnen, die ihre Lebensgeister wieder weckte. Ihre Finger glitten nachdenklich über die ebenmäßige Haut ihres Oberbauches, die merkwürdigerweise nicht die geringsten Spuren einer Verletzung aufwies. Mit dem Handtuch um den Körper gewickelt trat sie vor den Spiegel und blickte hinein. Es war immer noch die gleiche dunkelhaarige Frau mittleren Alters, die ihr daraus entgegen sah. Sie wollte sich schon abwenden, als ihr ein merkwürdiger Schatten in den Augen auffiel. Da war ein goldfarbener Schimmer um das Blau ihrer Iris.