Seite 21 von 24

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 24.09.2016, 20:06:38
von armandine
Hui, das ist ja mal eine interessante Idee. Ich bezweifle zwar, dass sich jemals eine Theaterleitung soviel Mühe gibt mit den Vorsingen, aber es war sehr spannend geschrieben und man konnte total mitfiebern.
Nur eine kleine Kritik muss ich anmerken: "Wir sollten da dann nur einige Oktaven herunter gehen" - das ist mit Verlaub gesagt falsch. Ein paar Oktaven herunter würde aus Anouk einen Bass machen ;-). Ein paar Töne vielleicht, wobei es generell so ist, dass die Tonhöhen festgeschrieben sind. Es gibt manchmal optionale hohe Töne, wie z.B. bei "Ich gehör nur mir", und es gibt ein paar Stücke, wo es je nach Sänger zwei verschiedene Tonarten gibt, eine höher, eine tiefer - "Dunkles Schweigen an den Tischen" und "Dies ist die Stunde" sind Beispiele dafür. Aber das sind die Ausnahmen. In allen anderen Fällen, besonders bei den "klassischeren" Musicals (bei Rockstücken hat man da mehr Freiheit), sind die Tonhöhen schlicht vorgeschrieben. Der Eindruck von höher oder tiefer beruht da in der Regel auf der Stimmfarbe: Dunklere Stimmen klingen tiefer, hellere höher, auch wenn beide die gleichen Noten singen.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 24.09.2016, 22:02:48
von Gaefa
Das klingt ja ganz nach wöchentlichen Teilen - das erfreut mich!
Ich drücke Anouk fest die Daumen, dass es mit ihrer Traumrolle klappt. Ich bin sehr gespannt.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 02.10.2016, 11:31:39
von Ophelia
Danke für eure Kommentare, besonders an armandine - mein musikalisches Wissen geht gen Null :oops: Ich versuche das Wenige, das ich kenne, fachgerecht einzubauen, aber das klappt meist nicht, also kritisiert das ruhig, dann lerne ich auch noch was ;)

Ich hielt die Show dank eines neuen Adrenalinschubs gut durch, aber danach überkam mich eine doppelte Müdigkeit und ich schlief beinahe zehn Stunden tief und fest und traumlos. Als ich aufwachte, klatschten dicke Regentropfen gegen die Fenster. Ich nahm ein ausgedehntes Frühstück zu mir und aß gegen das Kribbeln an, das meinen Magen immer wieder von rechts auf links stülpte. Liam bereitete im Wohnzimmer eine Unterrichtseinheit vor, und weil ich mich kalt und klamm fühlte, entschloss ich mich zu einer heißen Dusche (leider besaßen wir keine Badewanne).
Liam sah auf, als ich ihm kurz über die Schulter blickte.
„Du siehst nicht gut aus!“, meinte er überrascht.
„Kein Wunder!“, entgegnete ich. „Wahrscheinlich habe ich mich immer noch nicht von gestern erholt.“ Meine Stimme klang, wie ich feststellte, sehr belegt. Ich hatte mich gestern gnadenlos überanstrengt – erst die lange Audition und dann meine anspruchsvolle Rolle: das war zu viel für mich. „Hoffentlich werde ich nicht krank“, sagte ich bang; nach der plötzlichen Konfrontation mit so viel Stress und Arbeit in der letzten Woche wäre es kein Wunder, bei erster Gelegenheit eine Erkältung zu bekommen.
Ich sprang unter die Dusche, fühlte mich aber trotz meines Fröstelns unter dem heißen Wasser nicht wohl und wickelte mich rasch wieder in ein Handtuch ein. Außerdem entdeckte ich eher zufällig feine schwarze Ränder an den Deckenecken.
„Wir haben Schimmel im Bad“, teilte ich Liam etwas teilnahmslos mit. Ich hatte tatsächlich eine dicke Erkältung – nach der Dusche breiteten sich Kopf- und Rückenschmerzen ebenso unnachgiebig aus wie ein unangenehm kratzender Halsschmerz.
„Ich kümmere mich darum“, sagte er, „aber erst stecke ich dich ins Bett!“ Er warf einen Blick auf das altmodische Thermometer an der Wand. „Und wir müssen wohl anfangen zu heizen.“
„Der englische Herbst…“, murmelte ich wissend.
Auch unter der Decke war es kaum warm genug für mich, und weil ich wusste, dass es purer Leichtsinn wäre, in meinem Zustand auch nur an Arbeiten zu denken, rief ich im Theater an und meldete mich krank. Wenigstens freute sich mein Cover aufrichtig.
Ich schlief ein paar weitere Stunden und wachte mit dem ekligen Gefühl auf, das man nur hat, wenn man krank ist. Ich wollte nicht länger liegen und wechselte ins Wohnzimmer, was mich schon wieder ins Frieren brachte.
„Liegt es an mir, oder ist es hier drin wirklich sehr kalt?“ Draußen regnete es immer noch in Strömen.
„Nein, du hast schon Recht. Die Heizung springt nicht an.“
„Oh nein!“
„Das muss nichts heißen!“, sagte Liam abwehrend. „Wir heizen zum ersten Mal nach einem recht warmen Sommer. Vielleicht… ist da irgendwas verklemmt.“ Er breitete eine Wolldecke um mich aus. „Komm, lass uns rumsitzen und fern sehen.“ Er kochte uns eine Kanne Tee, und wir sahen uns schlechte Soaps an, während es draußen rasch dunkler wurde. Die Vorstellung, jetzt im Theater sein zu müssen, reizte mich gar nicht, und ich kam nicht umhin, ein klein wenig dankbar für meine Erkältung zu sein.

Dank weiteren acht Stunden Schlaf und einem guten Erkältungsmittel startete ich den freien Montag wesentlich erholter. Zwar war ich immer noch arg verschnupft und nun auch recht heiser, aber ich fühlte mich nicht mehr allzu schlapp.
Am späten Morgen klingelte es an der Türe: Fiona sah vorbei, in der Hand eine Brötchentüte und ein Glas selbst gemachter Marmelade.
„Wenn es dir zu schlecht geht, gehe ich wieder“, sagte sie, „aber ich dachte, ich versuche einfach, mich zum Frühstück einzuladen. – Liam arbeitet doch?“
„Ja.“
„Gut, dann bist du nicht so allein. – Darf ich?“
„Aber gerne!“ Ich hielt ihr die Türe auf und nahm ihr die Sachen ab. Ich fand ihre Idee, vorbeizukommen, sehr nett – in Deutschland wäre vermutlich niemand auf die Idee gekommen, unangemeldet bei einer kranken Freundin reinzuschneien. Obwohl die Abwechslung oft nicht falsch war.
Ich deckte rasch den Tisch und kochte Kakao. Ich hatte keinen großen Appetit, aber es wurde trotzdem ein schönes Frühstück. Ich schilderte Fiona genau meine Audition.
„Das heißt, dass sie jeden Moment anrufen könnten?“
„Eigentlich müsste es heute so weit sein.“ Mein Magen zog sich unangenehm zusammen – gestern hatte ich kaum daran gedacht, aber nun nistete sich die Frage um das Ergebnis wieder fest in meinem Kopf ein.
„Sag mal“, wechselte Fiona das Thema, „kann es sein, dass es ganz schön kalt bei euch ist?“
„Ja, irgendetwas stimmt mit unserer Heizung nicht…“
„Dann sieh bloß zu, dass ihr schnell den Vermieter auf den Plan ruft!“, riet sie mir. „Draußen ist es eisig, und diese Wände hier machen nicht den Eindruck, als wären sie gut isoliert.“
„Bei dem Mietpreis…“, murmelte ich. „Vielleicht werde ich mal Liams Vater anrufen, Männer haben da doch eigentlich ein gutes Händchen für… Im Bad haben wir auch ein wenig Schimmel“, fiel mir dann ein.
„Wenn es wenig ist, kann man da ja zum Glück selbst dran arbeiten“, sagte Fiona. „Also, ich bin satt. – Wenn du mich noch ein wenig aushältst, räume ich hier eben auf – nein, kein Einspruch, ich habe mich ja selbst eingeladen! Und… wenn du noch Lust hast… könntest du mir vielleicht ein paar Monologe von mir ansehen? Ich werde für ein Stück vorsprechen und hätte gerne noch eine dritte Meinung.“
Ich fühlte mich fast geehrt, dass sie mich fragte. „Klar“, sagte ich, „gerne!“
Sie gab mir die beiden vorbereiteten Ausschnitte zu Lesen, damit ich wusste, worum es ging, und während sie die Küche aufräumte, machte ich schnell etwas Platz und Ordnung im Wohnzimmer und setzte mich auf die Couch.
„Ihr habt ja eine richtige Bruchbude!“, lachte Fiona, als sie sich zu mir setzte. Ich ließ den Text, den ich gerade las, sinken, und starrte sie an.
„Was?“
„Na ja, ich habe nach dem Mülleimer gesehen und den Schrank unter der Spüle aufgemacht, da drin ist alles nass. – Ich dachte, das wüsstest du“, setzte sie hinzu, als ich alarmiert aufsprang.
Sie hatte Recht.
„So ein Mist!“, fluchte ich, als ich rasch den Schrank ausräumte. Ich nutzte ihn zum Glück nur als Lager für Putzmittel und Küchenkram, aber in einem alten Topf hatte sich schon eine ansehnliche Pfütze gebildet, und der Rest des Holzes war vollkommen durchweicht und eklig.
„Ist die Küche neu?“, fragte Fiona und strich über die Arbeitsplatte.
„Nein, zum Glück nicht.“ Ich nahm einen Aufnehmer und hockte mich vor den Schrank, aber Fiona setzte sich rasch neben mich und nahm ihn mir ab.
„Dann lass mich da mal eben was nachsehen“, bat sie mich, und ehe ich mich versah, steckte sie schon mit dem halben Oberkörper im leeren Schrank. Aus dem kaputten Rohr tropfte es unablässig auf ihre Haare. Ich saß daneben und knetete unruhig den Aufnehmer.
„Aha“, kam es dumpf von innen, aber ehe ich fragen konnte, was los war, klingelte das Telefon.
„Geh schon ran!“, rief Fiona aus dem Schrank, „es könnten sie sein!“
Ach ja! Ich sprang auf und ging ans Telefon. „Hallo?“, sagte ich atemlos.
„Guten Tag, Frau Steger“, sagte die Stimme, die ich als die der Frau aus der Jury erkannte. Sie lachte ein bisschen, als sie meinen Namen sagte. „Wir möchten Ihnen nur mitteilen, dass Sie den Part der Lily als Erstbesetzung übernehmen werden.“
„Oh“, sagte ich, etwas vor den Kopf gestoßen, „das ist… wunderbar!“
„Geht es Ihnen gut?“
„Ja, sicher – das heißt… Ich bin recht erkältet“, lenkte ich ein.
„Oje, dann wünsche ich gute Besserung! Ich habe auch schon mit Ihrer Agentin gesprochen, sie wird Sie im Laufe des Tages anrufen. Bei der Audition haben Sie uns sehr überzeugt.“
„Wirklich? Ich war mir gar nicht sicher, was ich denken sollte…“
„Ja, es war auch schwer für uns. Am Ende haben wir Eve ins Ensemble aufgenommen und als Ihr Cover engagiert, aber werden Sie uns bitte nicht krank, wir sind beeindruckt von Ihnen und haben Sie wirklich gerne dabei!“
„Okay, ich gebe mein Bestes… Vielen Dank!“ Ich legte auf, konnte aber wegen dem inzwischen dritten Hausschaden kaum Freude empfinden – zumindest im Moment nicht. Ich eilte zurück. Fiona war inzwischen wieder aus dem Schrank gekrochen.
„Und, was ist da los?“, fragte ich.
„Na ja, da hat euch jemand ziemlichen Schrott angedreht… Diese Küche ist ungefähr hundert Jahre alt“, scherzte sie halbherzig. „Die Rohre sind komplett verrostet und wie das Holz nach der ganzen Feuchtigkeit aussieht, kannst du dir vorstellen.“
„Oh nein!“, stöhnte ich. Drei Mängel in nur zwei Tagen – wie konnte das sein? Fiona ließ sich auf die Fersen zurückfallen und beobachtete mich.
„Noch ist ja nichts schlimmes passiert“, versuchte sie mich zu beruhigen. „Wenn ihr den Vermieter kontaktiert, wird er da sicher was machen.“
Da der Vermieter diese Mängel einfach nicht übersehen haben konnte, meldete mein Bauchgefühl, dass es nicht so einfach werden würde, wie Fiona sagte. Trotzdem nickte ich und lächelte.
„Wer war da übrigens am Telefon?“, fragte Fiona gespannt, und jetzt erst überrollte mich eine große Welle Aufregung und Erleichterung zugleich.
„Ich bin dabei“, erwiderte ich knapp und spürte, dass ich über das ganze Gesicht grinste. „Ich habe die Rolle!“

Ich fühlte mich, als sei ich nicht nur einen, sondern gleich zehn Schritte weiter gekommen. Nachdem Fiona sich verabschiedet hatte, telefonierte ich alle Freunde und Bekannte ab, um ihnen die frohe Botschaft zu übermitteln, und darüber vergingen zwei Stunden. Zwischendurch versuchte ich immer wieder, Liam zu erreichen, aber er war nie in der Nähe, wenn ich das Sekretariat anrief, und schließlich bat ich die Sekretärin einfach, ihm auszurichten, Lily sei zu Hause – offiziell durfte ich über mein Engagement ja nicht reden, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er diese verschlüsselte Nachricht verstehen würde.
Und so war es auch: als Liam endlich von der Arbeit zurück kam, hatte er eine Flasche Sekt dabei, die wir uns im kalten Wohnzimmer teilten, und trotz der vielen Mängel und meiner Erkältung konnte uns an diesem Abend nichts von unserer guten Laune und einem herrlichen Glücksgefühl abbringen.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 02.10.2016, 14:04:05
von little miss sunshine
Ich lese auch immer noch mit und finde die Entwicklung deiner Geschichte und des Charakters von Anouk toll :).
Also der neue Teil gefällt mir wieder sehr gut! Endlich scheint Anouk wieder Aussicht auf eine Rolle zu haben, die sie erfüllt.
Das mit der Wohnung ist natürlich richtig schlecht - hoffentlich ergibt sich da bald eine Lösung (eventuell in Form einer neuen Unterkunft?).

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 02.10.2016, 15:42:23
von armandine
Wieschön, das freut mich für sie! Und wegen der Wohnung habe ich aus eigener Erfahrung auch ein übles Gefühl...

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 02.10.2016, 20:21:19
von Gaefa
Ein schöner neuer Teil! Ich kann mich nur anschließen und hoffe, dass sich das mit der Wohnung irgendwie regeln lässt. Mir wurde beim Lesen schon ganz kalt...

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 09.10.2016, 21:18:54
von Ophelia
Danke für eure positiven Rückmeldungen! Hier geht es weiter:

Als die Nachricht von dem Aus von Love never dies durch die Medien geisterte, zeigte sich niemand überrascht. Es gab einige Fans, die traurig waren, und für ein paar Tage erlebte das Theater einen plötzlichen Ansturm auf die letzten Karten, aber die Mehrheit der Theaterbesucher und Szenekenner nannte die Entscheidung, die Verträge nicht zu verlängern, eine glückliche und „einzig sinnvolle“. Insgeheim dachte ich dasselbe.
Weil die Derniere und die letzten beiden Vorstellungen ausverkauft waren, wurde ein gemeinsamer Probentag angekündigt, um noch einmal alles durchzugehen, einiges zu verbessern und einen letzten schönen, gemeinsamen Tag zu verbringen. Ich freute mich erst, doch je näher der Tag kam, desto lustloser wurde ich und schließlich schützte ich am Abend vorher Krankheit vor und sagte ab: ich wolle lieber für die Vorstellung am Abend fit sein. Das hatte ich noch nie getan, eine Probe aus Langeweile und Eigennutz abgesagt, und als ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß, gemütlich in drei Wolldecken gehüllt, nagte das schlechte Gewissen an mir.
„Auch ein Künstler muss an sich selbst denken“, meinte Liam dazu und schob seine Füße unter die Decken. „Außerdem bist du in dieser Fernseh-Show gewesen.“
Das stimmte allerdings. Und diese Erfahrung ließ sich bestenfalls als interessant bezeichnen. Ich bemerkte recht schnell, dass mir das Fernsehen nicht gefiel: die Kameras, die von allen Seiten auf mich gerichtet waren, glichen großen, zusätzlichen Augen, übermächtigen Augen, und einen Fehler im TV zu machen wog plötzlich tausendmal mehr als einen Fehler auf der Bühne zu machen. Man würde es immer irgendwie abrufen können. Es würde unprofessioneller wirken. – Nicht, dass mir ein Fehler unterlaufen wäre. Aber die Interviews hatten mich angestrengt, und mein Herz hatte vor lauter Angst, mit einer falschen Vokabel einen ganzen Satzsinn zu ändern, die ganze Zeit heftig geschlagen, und unter dem Make-up waren meine Wangen bestimmt glühend rot gewesen. Vor lauter Angst war ich danach so erschöpft gewesen, dass ich zu Hause auf dem Sofa sofort eingeschlafen war, noch ehe ich die Schuhe abgestreift hatte.
Nein. Ich gehörte definitiv nicht ins Fernsehen, sondern auf die Bühne. Der Unterschied dazwischen war unendlich groß und für mich unüberwindbar.
„Hast du heute den Vermieter erreichen können?“, fragte ich, um diese unangenehmen Erinnerungen loszuwerden.
„Nein.“ Liams Stimme klang düster. „Und mein Gefühl wird immer schlechter.“
Ich zog die Beine an und schlang die Arme um meine Knie. „Ich werde mich einfach ganz doll anstrengen“, sagte ich, „und so viel Geld verlangen, wie noch höflich ist. Und dann… ziehen wir eben wieder aus…“ Es fiel mir nicht leicht, das zu sagen: diese unsere erste Wohnung hatte etwas Besonderes sein sollen. Nun, besonders war sie: wir lebten in einer Bruchbude, wie Fiona gesagt hatte. Die Heizung ging immer noch nicht und inzwischen hatten sich die Temperaturen auf höchstens vierzehn Grad eingependelt, ansonsten nieselte es beständig und ein stetiger Herbstwind pfiff um die Häuser – und durch unsere niemals richtig schließenden Fenster, wie sich herausstellte.
„So lange können wir nicht warten.“ Er sah mich an. „Es ist ja gemütlich, unter diesen Decken zu sitzen, aber wir können uns Krankheiten nicht leisten – besonders du nicht!“, mahnte er nachdrücklich, als ich Einspruch erheben wollte. Ich seufzte.
„So hatte ich mir das nicht vorgestellt.“
„Nein“, murmelte Liam, „ich auch nicht…“

Von dem heimischen Ärger lenkten mich die bevorstehenden Proben ab. Die Konzerte würde am fünften, sechsten und siebten Oktober stattfinden, und die Derniere von Love never dies war am siebzehnten September. Die Proben für The secret Garden begannen am fünfzehnten, weshalb ich drei Tage lang dreizehn Stunden am Tag arbeitete, ehe ein unangenehmes Kapitel endlich die Türen hinter mir schloss. Ein letztes Mal waren Adam und ich das Phantom und Christine, und noch ehe die Show begann, hatte ich schon meine Garderobe leer geräumt und Liam die ersten Kartons in den Kofferraum geladen. Es fühlte sich an wie der letzte Schultag vor dem Abschluss: nun, da alles geschafft war, wollte ich nur noch weg. In der Pause wurden schon erste Bühnenteile weggetragen; obwohl dieses Vorgehen nicht besonders war, fühlte sich alles kalt und lieblos an. Es gab keine Dernierengags, aber viel Szenenapplaus, und am Ende regnete es obligatorische Rosen.
Und dann war es vorbei.
Am liebsten hätte ich eine Abschlusskappe geworfen, stattdessen machte ich mich auf die Suche nach einem kleinen Souvenier, das ich ungesehen einstecken konnte, und ließ eine kleine Spange mitnehmen, die ich in einigen Szenen im Haar trug.
Liam holte mich vom Theater ab. An der Bühnentür ließ ich mich zu einigen Fotos, Autogrammen und Gesprächen überreden, aber die meiste Aufmerksamkeit galt ohnehin Adam, sodass ich mich rasch aus dem Staub machen konnte.
„Ich fühle mich schrecklich herzlos“, sagte ich, als wir im Auto saßen und nach Hause fuhren.
„Warum das?“
„Weil ich so unendlich froh bin, endlich gehen zu können“, sagte ich beschämt. „Es kommt mir so treulos vor, dieses Engagement so zu hassen. Als wäre ich eine schlechte Künstlerin.“
„Ich sage meinen Schülern immer, wer nicht wenigstens ein absolutes Mist-Engagement hatte, der hat seine Ausbildung noch nicht vollendet“, erwiderte er. Ich sah ihn an, sein Profil mit der geraden Nase, das blonden Haar, das er etwas kürzer als früher und viel ordentlicher trug, seinen konzentriert auf die Straße gerichteten Blick, und ich mochte es, dass er sagte „meine Schüler“. Es klang so erwachsen, so verantwortungsvoll, und ich fühlte mich auch erwachsen, verantwortungsvoll und voller Liebe. Ich war mir der Wirklichkeit des Augenblicks plötzlich so sehr bewusst, als habe jemand die Zeit angehalten; ich spürte den Autositz unter mir, die trockene Heizungsluft, sah London um mich herum und wusste, ich war Anouk Steger, ich war Künstlerin und ich liebte Liam; ich war, wie man so schön sagte, im Leben angekommen, stand auf eigenen Beinen.
„Ob du ihnen damit Mut machst?“, entgegnete ich etwas verspätet auf seinen Kommentar, überwältigt von meinen Gefühlen. „Aber du hast Recht“, fuhr ich rasch fort, ehe ich den schönen Moment durch Schnippigkeit zunichte machen konnte, „das muss wohl mal passieren. Ab jetzt wird alles wieder gut.“
„Darauf wette ich. Wie waren denn deine ersten Proben?“ Wir hatten uns in den letzten Tagen so gut wie nie gesehen – und das, obwohl wir zusammen wohnten!
„Sie sind herrlich!“, sagte ich, viel schwärmerischer, als ich beabsichtigt hatte. „Wir proben in einem großen Saal, es ist wunderschön dort, und du kannst dir die Kinder nicht vorstellen, sie sind so unglaublich gut! Und endlich verstehen wir uns alle richtig gut. Es macht großen Spaß.“
„Ich kann es kaum erwarten, das Konzert zu sehen!“, sagte er aufrichtig. „Royal Albert Hall…“ Er ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. „Ich bin fast neidisch!“
„Vielleicht kann ich dich ja ins Ensemble schmuggeln“, witzelte ich. „Du wirst sehen, es wird großartig. Ich habe heute ein paar Bühnenbildentwürfe gesehen, und es-“ Ich brach abrupt ab und grinste verstohlen. „Aber nein. Mehr verrate ich nicht.“
„Warum so geheimnisvoll? Und was heißt hier Bühnenbild, ich dachte es wird eine konzertante Aufführung?“
„Wird es auch. Es ist auch wirklich nur ein bisschen, diese Gartenthematik bietet sich so gut an… Alles ganz reduziert, versprochen. Aber ich will nichts verraten, es würde den Effekt verderben.“
„Na gut. Ich lasse mich überraschen“, sagte er, und wieder musste ich grinsen, weil ich fast platzte vor Stolz über mein neues Engagement.

Die Proben für The secret Garden waren die entspanntesten und interessantesten, die ich je erlebt hatte – und auch die intensivsten. Wenn wir um zehn Uhr alle eingetroffen waren, wärmten wir uns gemeinsam auf, und dann ging es an die Songs, die oft so häufig wiederholt wurden, dass ich fürchtete, wir würden niemals rechtzeitig fertig werden. Aber das Kreativteam arbeitete mit solch ruhiger Präzision, dass wir am Ende des Tages nach Hause gingen mit dem Gefühl, alles geschafft zu haben, was wir an diesem Tag hatten schaffen wollen. Es machte mir großen Spaß, mich wieder ernsthaft mit Liedinterpretationen und Gesangstechniken auseinander zu setzen, umso mehr, da Rupert mir fast beiläufig und besser als jeder Lehrer weitere Nachhilfe im Gesang gab, und bald fühlte ich mich ihm ebenbürtig.
Das Bühnenbild sollte, wie ich Liam bereits sagte, sehr reduziert sein; gelegentlich gab es einen Sessel oder eine kleine Wand mit Gemälden, aber in der Regel gab es nur uns in unseren Kostümen, die ebenfalls recht schlicht, aber dem Stück angepasst waren. Dafür wurde intensiv an der Lichttechnik gefeilt; wenn ich als Lily auftauchte, sollte die Bühne in ein gräuliches, dumpfes Licht gehüllt werden, und in mehreren Songs stand ich auf einem einfachen Holzwürfel, etwas erhöht. Der einzige raffinierte Kniff im ganzen Stück würde das Finale sein; wenn Mary den Garten betrat, senkte sich eine Leinwand mit einem einzigen Ausschnitt in Form einer großen Türe vor die Bühne, und die Pläne, die wir gemeinsam ansahen sahen vor, grüngewandete Artisten von der Decke abzuseilen und irgendwie echte Blumen in den Saal zu schaffen. Es war eine der schönsten Ideen, die ich je gesehen hatte – nur leider waren sie von der Realität weit entfernt.
„Wir werden eineinhalb Wochen haben, um uns in der Albert Hall einzurichten“, so die Information. „In dieser Zeit stehen Licht- und Bühnentechniken im Vordergrund, also möchten wir, dass die Songs und gelegentlichen Choreographien bis dahin sitzen.“
„Das werden wir locker schaffen“, meinte Rupert, als wir eine Pause einlegten. „Ich habe mal den Sommernachtstraum gespielt, da standen bei der Premiere die letzten Szenen nicht, und wir mussten alles improvisieren. Das waren die besten Szenen, die wir je gespielt haben.“
„Nur leider können wir von der Decke schwebende Artisten nicht improvisieren“, sagte der Regisseur. „Hier möchte ich lieber nach dem Prinzip Safety first denn nach No risk no fun gehen.“
„Verständlich“, sagte Rupert trocken.
Ja, es waren entspannte, heitere, professionelle Proben.
Ich könnte so glücklich sein – wir, Liam und ich, könnten so glücklich sein, gäbe es nicht einen großen Haken in unserem Alltag: auch nach erfolgreichem Kontakt mit dem Vermieter geschah nichts, was unsere Wohnsituation änderte, und inzwischen rückte der Winter unaufhaltsam näher, und das Betreten der gemeinsamen Wohnung erfüllte mich nur noch mit Ärger und Enttäuschung.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 10.10.2016, 07:33:33
von armandine
Ihhhhhhhhhhhh das ist ja doof mit der Wohnung. Hoffentlich löst sich das bald. Aber schön, dass das neue Engagement so viel Spaß macht. Allerdings braucht sie auch wieder bald etwas für die Nachfolge, oder?

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 11.10.2016, 16:07:42
von Gaefa
Ein schöner Teil!
Die Sache mit dem folgenden Engagement fiel mir auch ein. Eigentlich müsste sie da auch längst wieder auf der Suche sein. Ich bin aber schon sehr auf die Konzerte gespannt.
Oo, das mit der Wohnung klingt gar nicht gut. Geht es doch zurück zu Liams Eltern und dann in die nächste Runde der Wohnungssuche? Ich bin gespannt...

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 15.10.2016, 22:17:45
von Ophelia
Einge eurer Fragen/ Vermutungen werden hier gelöst:

Ich stellte den Koffer ab, sah mich um und seufzte laut. Alles war, wie wir es verlassen hatten – das frisch renovierte, unpersönliche Schlafzimmer, das große Bett, der Balkon. Die Kleiderschranktüren standen weit offen und gähnten mich leer an. Unser persönlicher Geruch, der keine Chance gehabt hatte, um sich auszubreiten, war dem nach frischem Holz und Wandfarbe gewichen. Ich wollte noch einmal laut aufseufzen, aber hinter mir betrat Liam das Zimmer, und ich ließ die eingeatmete Luft bewusst langsam und leise entweichen.
„Also“, sagte ich, betont fröhlich, „da sind wir wieder. Und es ist warm.“
Liam warf mir bloß einen finsteren Blick zu und schleuderte seine Reisetasche unnötig heftig auf das Bett, sodass die wie im Hotel drapierten und in der Mitte eingeschlagenen Kissen vornüber fielen und die Decken zerknitterten.
Ja, wir waren wieder dort, wo wir nicht sein wollten – zurück bei Liams Eltern. Die letzten Tage waren anstrengend gewesen: wenn ich nach den Proben nach Hause kam, nützten auch mehrere Kleiderschichten nichts mehr, und das ständige Frieren im Bett raubte uns beiden den Schlaf. Heute Morgen waren die Dächer zum ersten Mal weiß vom Frost geworden, und mich plagten abermals gefährliche Halsschmerzen. Ich hatte versucht, es zu verbergen, aber als Liam – angespannt und wütend ob der fruchtlosen Diskussionen mit der Cousine der Tochter des Vermieters (oder so ähnlich…) – hatte die Halstabletten und Teevorräte doch entdeckt und noch in der selben Stunde beinahe manisch die nötigsten Kleidungsstücke in Taschen geworfen. Immer wieder hörte ich ihn leise fluchen. Ich versuchte indes, eine heitere Miene aufzusetzen, auch wenn es in mir brodelte. Aber ich war zu erschöpft und zu erleichtert über ein warmes Bett, als dass auch ich in Wutanfälle ausbrechen könnte. Ich näherte mich Liam und legte zögerlich die Arme um seine Mitte.
„Sei nicht so“, murmelte ich mit der Stirn an seinem Rücken. „Es wird sich schon alles klären. Mr Andrews wird alles regeln.“
Mr Andrews war unser Anwalt. Liams Vater hatte ihn uns empfohlen, er war durch frühere Angelegenheiten mit ihm vertraut.
„Mr Andrews wird uns auch einiges kosten“, murmelte Liam düster.
„Ich wette, wir sind trotzdem auf der Gewinnerseite. Schadensersatz… wie sagt man das auf Englisch?“
Er ging nicht auf mein Ablenkmanöver ein, sondern zerrte nervös an der Bettdecke.
„Ich wollte so gern, dass alles klappt“, sagte er grimmig. „Unsere erste Wohnung sollte doch etwas Besonderes sein.“
„Na ja, war sie ja auch…“, witzelte ich, aber der Scherz war inzwischen zu abgedroschen. „Hör mal, ich muss gleich zur Probe. Versuch einfach… ich weiß auch nicht, dir trotz allem einen schönen Tag zu machen.“ Ich drängte mich vor ihn und küsste ihn rasch. „Und grüble nicht zu viel nach. Es… wird sich alles regeln.“ Es kostete mich einiges an Überwindung, diese dumme Floskel zu verwenden, an die ich eigentlich selbst kaum glaubte, aber ich wollte auf keinen Fall seine Laune verschlechtern. Und mit dem Anflug eines schlechten Gewissens bemerkte ich, dass ich mich auf die Probe freute, umso mehr als dass es bedeutete, etwas Freiraum von allem zu haben.

Ich verbrachte so viel Zeit wie möglich auf der Probe, meistens sogar mehr, als ich eigentlich musste. Ich sah dann den anderen beim Proben zu, besonders Rupert, der den Archibald Craven spielte. Oft saßen wir in den Pausen oder nach einem anstrengenden Tag noch lange zusammen und diskutierten über Musicals, Schauspiel und verschiedene Techniken. Einige Male blieb ich länger, um von seinem enormen Wissen zu profitieren, und wenn wir gemeinsam gesungen hatten, konnten wir nicht umhin, Lily und Archibald immer und immer wieder neu zu interpretieren. Es verging kaum ein Morgen, an dem nicht einer von uns sagte: „Hör mal, wie wäre es, wenn…“, und der Regisseur sah sich irgendwann gezwungen, uns in unserer Kreativität etwas einzudämmen, um die anderen Darsteller nicht zu verdrängen.
Auch heute verschwanden alle Sorgen aus meinem Kopf, sobald ich das Haus verließ, und bis ich den Proben-Saal betrat, war ich völlig in Gedanken versunken. Das Lachen der kleinen Natalie, die Mary spielte, riss mich aus meinen Grübeleien um mögliche kleine Veränderungen in meiner Darstellung der Toten. Natalie war mit ihren zwölf Jahren klein wie eine Zehnjährige und dünn wie eine Waldfee, und sie sprühte vor Energie, Spielfreude und Liebenswürdigkeit. Ihr Akzent war hinreißend, so very british, und ich freute mich immer, wenn sie zu verstehen gab, dass sie mit dem Aufwärmen auf mich gewartet hatte: wenn ich Stimm- und Atemübungen angab, starrte sie mich mit großen Augen an und folgte meinen Anweisungen so ernsthaft, dass es beinahe zum Lachen war. Als ich den Saal betrat, lachten sie und Michael, ihr Kinder-Bühnenpartner, gerade über irgendeine Imitation des Regisseurs. Aus der Ferne machte es fast den Eindruck, als mache er mein ungeschicktes Stolpern von gestern nach…
„Guten Morgen, so spät heute?“, begrüßte mich Rupert. Wenn er nicht auf der Bühne stand, sah sein Gesicht abgelebt und ein bisschen aufgeschwemmt aus, dabei war er ein attraktiver Mann – ein typischer Mittfünfziger mit grauen Schläfen und stahlblauen Augen. Weil er so wenig Wert auf sein Äußeres legte, konnte ich die heutige Kostümprobe kaum abwarten.
„Ja, ein kleiner… Zwischenfall. Wir sind ganz überstürzt ausgezogen.“
„Du meine Güte!“ Er reichte mir den Probenplan für heute, der kurzfristig geändert worden war. Ich überflog die Anmerkungen – Kostümanprobe und Szenenprobe parallel, die Hauptrollen waren zuerst in der Garderobe dran. Heute würde ich erst am späten Abend zu Hause sein. – Zu Hause, der Gedanke versetzte mir einen Stich.
„Ja, zu den Eltern meines Freundes.“
„Oh, das klingt ja romantisch.“
Ich seufzte, diesmal sehr inbrünstig. „Ja, aber besser als diese kalte Höhle, in der wir gehaust haben. Immerhin, jetzt kümmert sich ein Anwalt. – Guck mal, heute verwandeln sie dich endlich in meinen gutaussehenden Witwer.“
„Und in den buckellosen“, ergänzte er. „Zum Glück!“
„Na ja, für ein Konzert sähe der auch etwas doof aus.“ Wir würden zwar kostümiert spielen, aber nicht zu aufwendig, und vieles wurde weggelassen – zum Beispiel Archibalds Buckel.
„Und übermorgen ist die erste Fotoprobe, sie wurde vorverlegt.“
„Offensichtlich.“ Ich rümpfte die Nase – hoffentlich würden zwei Tage in unserem neuen, gut geheiztem Heim reichen, um meinen Dauerschnupfen in den Griff zu kriegen. Eine Lily mit roter Nase sah bestimmt nicht ätherisch, sondern sehr weltlich aus.

Die Kostümanprobe lief schnell ab. Das weiße Kleid, das ich trug, musste kaum noch geändert werden, und Rupert gefiel mir in seinem schwarzen Anzug schon viel besser. Wir probten unsere Duette; besonders „How could I ever know“ war zu einer innigen, gefühlvollen Szene gereift, die ich jedes Mal kaum erwarten konnte zu proben. Am Anfang der Proben war uns das Privileg zuteil gekommen, alte und relativ hochwertige Aufnahmen der Londoner Originalcast zu sehen, und anschließend hatten Rupert und ich lange über die Choreographie nachgedacht. Schnell war klar, dass Lily nicht so dominant und gebieterisch erscheinen sollte, wie Meredith Braun sie einst dargestellt hatte, sondern zarter, gefühlvoller und mitleidiger; Archibalds Trauer wurde ebenfalls diffiziler und deutlicher, und jedes Mal, wenn Rupert seine ersten Zeilen zu dem Song anstimmte, lief mir ein wohliger, trauriger Schauer über den Rücken.
„Ja, das ist gut, sehr gut“, sagte der Regisseur, nachdem wir die Duette durchgegangen waren. „Anouk, bei „A girl in the valley“ möchte ich, dass ihr euch nicht bewegt… Du stehst am linken Bühnenrand, Rupert rechts – denkt daran, dass in der Mitte getanzt wird, darauf liegt hier das Augenmerk.“
Der Tag verstrich ohne Leerlauf, und bei jedem Blick auf die Uhr war ich ums Neue erschrocken über die Geschwindigkeit, mit der die Zeit verlief. Das Resümee des Tages klang durchweg positiv: „Das war eine gute Probe heute. Morgen werden wir den ersten Durchlauf in der Royal Albert Hall machen, übermorgen werden Fotos und kurze Videos gemacht. Darauf müssen wir vorbereitet sein – das wird anstrengend, aber ich weiß, dass wir das schaffen werden. Wir liegen gut in der Zeit.“
„Wie sieht es aus mit ein paar abschließenden Übungen?“, fragte Rupert, aber obwohl ich gern noch länger geblieben wäre, schüttelte ich den Kopf.
„Besser nicht“, antwortete ich, „nicht heute. Ich muss mich mal ausruhen, und außerdem möchte ich zu Liam. Wir haben einiges zu besprechen.“
„Ja, das solltest du nicht vernachlässigen“, nickte Rupert. „Meine Frau ist bestimmt auch mal froh, wenn wir zusammen zu Abend essen…“
So trennten wir uns.
Zuhause war die Stimmung beinahe unverändert, nur dass Liam jetzt nicht mehr wütend, sondern eher düster-resigniert war. Er lag auf dem Bett, das Radio lief leise, und er blätterte durch ein Magazin. Auf meiner Seite des Bettes lagen mehrere Hefte, Pläne und Stifte.
„Arbeitest du?“, fragte ich leise. Er ließ das Magazin sinken.
„Nein, ich bekomme den Kopf nicht frei…“ Er schob seine Sachen achtlos zusammen, warf sie neben sich auf den Boden und klopfte auf die Decke neben sich. Meine Vorsätze, das weitere Vorgehen mit ihm zu besprechen, verflüchtigten sich, als er die Arme um mich legte.
„Heute bist du so früh“, murmelte er in mein Haar.
„Nein, gar nicht. Ich bin mal pünktlich. Rupert und ich lassen unsere Zusatz-Proben mal ausfallen.“
„Streber sind sowieso out“, erwiderte er.
„Nicht bei Künstlern.“ Ich rückte näher an ihn heran. „Im Ernst: ich wollte hier sein. Was hast du heute gemacht?“
„Der Höhepunkt des Tages war eigentlich ein gemeinsamer Fernseh-Abend mit meinen Eltern“, antwortete er halb düster, halb schmunzelnd. „Erzähl mir lieber von den Proben. Ich kann es kaum erwarten, dich auf der Bühne zu sehen – in der großen Royal Albert Hall!“
„Nutzt sich nie ab, was?“, sagte ich lächelnd.
„Nie“, erwiderte er, und aus seiner Stimme klang purer Stolz.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 16.10.2016, 14:48:57
von Gaefa
Ein schöner Teil, auch wenn die Traurigkeit der Wohnungssituation mitschwingt.
Ich bin sehr gespannt, wie sich alles entwickelt.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 18.10.2016, 12:15:20
von armandine
Das ist ja finster für die beiden. Ich hoffe auch, dass sie bald etwas Neues finden - damit sie bald wieder den Kopf frei haben und sich freuen können über ihre schönen Berufe.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 24.10.2016, 11:47:20
von Ophelia
Weiter geht's:

Die große Royal Albert Hall! Sie schien nun, da ich sie als fest engagiertes Ensemblemitglied betrat, noch einmal auf die doppelte Größe angeschwollen zu sein. Wie konnte es möglich sein, dass all diese Plätze an drei Abenden gefüllt würden? Gab es überhaupt so viele Menschen in der Umgebung? Wenn nur die 7000 Sitzplätze besetzt würden, hieße das dann… die Betrachtung durch 14000 Augen? Drei mal 7000 Menschen, das machte 21000 Menschen, die mich sehen würden, 42000 Augen… Es sei denn, ich rechnete die Stehplätze dazu, das würde dann… Ich brach meine konfusen Rechnungen ab, als mir die Zahlen entschieden zu groß zum Kopfrechnen wurden. Stattdessen ließ ich mir meine Garderobe zeigen (und erfuhr ganz nebenbei, dass es jene war, in der bereits Sierra Boggess anlässlich der Jubiläumsshow für Phantom of the Opera ihr Lager aufgeschlagen hatte…). Zum Einrichten blieb allerdings kaum Zeit, denn der Durchlauf sollte zügig beginnen, damit wir für die Fotoprobe vorbereitet waren. Und in zwei weiteren Tagen, stellte ich fest, würde auch schon die Sitzprobe anstehen, und dann war es nur noch ein Katzensprung bis zu den drei großen Shows…
Es dauerte etwa eine Stunde, bis ich zurück in den Zuschauerraum kehrte – ein erstes Make-up Fitting hatte soeben erfolgreich stattgefunden, und meine Haare, die heute morgen noch schlaff und vom Wind strähnig gewesen waren, sahen nun in der eleganten Hochsteckfrisur um Längen besser aus. Da das Geschehen auf der Bühne für die hinteren Reihen auf der Bildschirmen über der Bühne aufgezeichnet wurde, war ein kräftiges Bühnen-Make-up nicht nötig; es gab keine falschen Wimpern oder rote Wangen, nur etwas Puder, Augen-Make-up, ein wenig Rouge und Lippenstift. Ich hoffte, er würde nicht an meinen Zähnen kleben, das würde auf der Leinwand nur zu gut zu sehen sein, und wieder einmal hatte ich etwas gefunden, das mich nervös machte.
Während ich weg gewesen war, hatte die Bühne neue Formen angenommen. Die Arbeiter, die schon seit dem Morgengrauen am Werk sein mussten, hatten bei meiner Ankunft unter einigem Lärmen schwere Podeste zusammengezimmert; nun war die halbrunde Bühne gemäß den Anweisungen in drei Ebenen unterteilt: das vordere Drittel diente der Bespielung; leicht erhöht, auf dem ersten Podest, saßen in zwei langen Stuhlreihen die Darsteller, und im Hintergrund, auf einem recht hohen Podest, würden der Chor auftreten oder kleine Choreographien gezeigt. Es herrschte einige Aufregung; heute trugen alle ihre Kostüme, und jeder musste den anderen begutachten, Witze reißen, Komplimente machen oder über die Beschaffenheit des Stoffes staunen. Ich beobachtete die Akrobaten, die im Finale zwar nicht von der Decke schweben, aber dafür elegant aus den Seiteneingängen geturnt kommen würden: sie waren in hautenge, angenehm grüne Anzüge gezwängt, deren Stoff über und über mit Blüten und Ranken bestickt war.
„Ganz schön viel Aufwand für eine kleine Szene“, bemerkte ich zu einer zierlichen Turnerin.
„In diesen Anzügen fühlt sich die kleine Szene wie eine Ewigkeit an“, erwiderte sie, grinste mir aber trotzdem zu und verbog ihren Rücken, bis ihr Kopf durch die Beine schaute. Ich lächelte vage zurück und beschloss, dass ich nicht zu ihrer Welt gehörte, ebenso wie ich in der Schule nie zu den Tänzern gehört hatte, die sogar in der Mittagspause mit verrenkten Gliedern ihre Suppe gelöffelt hatten. Stattdessen bemerkte ich Rupert, der gerade den antik wirkenden Rollstuhl des kleinen Michael begutachtete.
„Rupert, du siehst glatt zehn Jahre jünger aus“, begrüßte ich ihn und strich Michael über das glatt gegelte Haar, das ihm sichtlich ungemütlich war. „Und du natürlich auch. Ich meine, nicht zehn Jahre jünger, sondern klasse!“, setzte ich rasch hinzu. Nach einigem Geplänkel wurden wir zum ersten Mal zu unseren Plätzen gewiesen; ich saß relativ mittig in der ersten Reihe neben den anderen Hauptrollen. Es war laut und ausgelassen, aber als uns unsere Positionen gezeigt wurden, waren alle konzentriert. Das Ganze nahm einige Zeit in Anspruch, und zum ersten Mal fühlte ich einen Anflug von Überforderung, während ich versuchte, alle Positionen zu den jeweiligen Szenen mitzuschreiben. Das wird schon, dachte ich nervös, als die Musik einsetzte, irgendwie, so schwer ist es gar nicht, und das stimmte auch: die meisten Gänge ergaben sich automatisch aus den Szenen, und da es ein Konzert war, gab es keine komplizierten Szenenwechsel.

Am Abend kam ich früher als gewöhnlich nach Hause; nach zwei erschöpfenden Durchläufen mussten nun nur noch die Akrobaten eingebaut werden. Ilene und ich waren allein im Haus, und wir setzten uns ins Wohnzimmer und ich genoss es, bei strömendem Regen im Warmen zu sitzen. Wir blätterten durch Illustrierte, futterten Chips und Schokolade und schwiegen, bis Ilene fragte, was nach den Konzerten sein würde.
„Ich fliege erst mal zurück nach Deutschland“, erwiderte ich, „für ein paar Wochen.“
„Eine Auszeit?“
„Könnte man so sagen. Zumindest kann ich es mir erlauben. Vielleicht tut sich dort ja etwas auf.“ Ich beschönte alles ein wenig; genau genommen wusste ich noch nicht, was nach The secret Garden kommen sollte, aber ich verspürte auch nicht mehr die Anspannung und Zukunftsangst von früher, weil ich nun finanziell abgesichert war und einen festen Stand im Geschäft hatte. „Meine Mutter hat einen neuen Partner, und meinen Vater habe ich schon ewig nicht mehr gesehen, und alte Freunde und Bekannte fehlen mir ein wenig.“
„Ein wenig oder sehr?“, fragte sie nachsichtig lächelnd.
„Wirklich nur ein wenig“, antwortete ich ehrlich und sah aus dem Fenster. „Ich bin hier ganz heimisch geworden.“
„Das freut mich. Willst du – oder wollt ihr – denn nun für länger hier bleiben?“
Ich zuckte unentschlossen mit den Schultern. „Liam macht nicht den Eindruck, als würde seine Arbeit ihn langweilen“, sagte ich langsam. „Und ich denke, nach Love never dies und den Konzerten habe ich als Darstellerin auch hier Fuß gefasst.“
„Das heißt, du willst dich lieber hier nach einem neuen Job umsehen?“
Ich wand mich unter der Frage. „Ich weiß nicht genau“, sagte ich. „Wenn ich ein Angebot in Deutschland bekäme, wäre ich auf jeden Fall sehr unentschlossen. Wie gesagt, ich bin gerne hier. Auch, wenn wir noch keinen festen Wohnsitz haben…“
„Ich hoffe für euch, dass sich das bald klären wird“, sagte sie. „Sag mal, weißt du eigentlich, ob Liam noch mal, na ja, irgendwo auftreten will? Ich habe im Moment das Gefühl, er macht sich gar nichts mehr daraus.“
„Er wird auftreten“, sagte ich bestimmt. „Da bin ich mir sicher. Im Moment genießt er seinen Job, aber ich kenne ihn. Ich glaube, er war einfach niedergeschlagen, weil er in Deutschland nicht den gewünschten Erfolg hatte, aber… er wird sich bestimmt irgendwann irgendwo bewerben. Wenn du möchtest, frage ich ihn“, bot ich an, und jetzt, wo wir darüber sprachen, war ich selber neugierig, wie er antworten würde.

Als ich mit Liam über das Thema sprach, schmunzelte er. „Meine Mutter denkt bestimmt, ich hätte den falschen Job gewählt“, meinte er.
„Na, und – hast du?“, fragte ich.
„Natürlich nicht!“ Er sah schockiert aus. „Aber im Moment fühle ich mich als Lehrer wohl. –Wobei ich natürlich nichts gegen ein Engagement hätte, mit dem sich beides vereinbaren wird. Früher oder später wird mir das Unterrichten bestimmt langweilig, und die Lust auf die Bühne packt mich wieder. – Da wären wir.“ Er ließ mich an der Royal Albert Hall aus dem Auto hüpfen. „Eine schöne Fotoprobe wünsche ich!“, sagte er, ehe er rasch wendete und wieder davon brauste, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen.
Ich hatte noch etwas Zeit, also zog ich mich in Ruhe um, und als ich in der Garderobe saß, klingelte mein Handy; es war Viktoria. Sie hielt ein Jobangebot für mich bereit, das meine kurze Zeit in Deutschland würde ausfüllen können…

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 24.10.2016, 15:48:48
von Gaefa
Manchmal kommt der Berg also doch zum Propheten - zumindest scheint das so zu sein, wenn Anouk ein Jobangebot für ihre Zeit in der Heimat bekommt. Das klingt doch gut. Und allgemein ein schöner Teil, auch wenn nicht allzu viel passiert. Ich freu mich schon auf die Fortsetzung und bin gespannt, worum es sich handelt und ob die beiden wirklich in London Fuß fassen.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 24.10.2016, 23:28:03
von armandine
Aha, sieh mal an. Die Zukunft hat ja wohl wieder mal ein paar Überraschungen parat!

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 03.11.2016, 17:38:02
von Ophelia
Der Berg kommt tatsächlich zum Propheten, lest hier:


Am Tag des ersten Konzertes begann ich, für meinen Deutschlandaufenthalt zu packen; ich würde nämlich schon in drei Tagen den „Heimweg“ antreten, und das aus gutem Grund: Marius Hübert, mit dem ich in Rebecca auf der Bühne gestanden und den ich als Schülerin angehimmelt hatte, arbeitete an einer neuen CD und suchte noch Duettpartnerinnen. Ich hatte die Ehre, mit ihm Totale Finsternis und einen Rebecca-Medley aufnehmen zu dürfen. Ich hatte noch nie einen Song aufgenommen und freute mich auf die neue Aufgabe. Und ich war sehr stolz, dass Marius mich fragte – als Viktoria mir sein Angebot mitteilte, warf mich das geradezu zehn Jahre zurück, und meine Wangen brannten rot und heiß, als ich begeistert „Au ja!“ antwortete – vielleicht nicht die professionellste Antwort auf ein Jobangebot. Aber Marius hatte mich auf die großen Bühnen gebracht, und jetzt wollte er auch noch zwei Songs für seine CD aufnehmen…
Ich saß vor meinem noch leeren Koffer und überlegte, was ich mitnehmen sollte. An den ersten zwei Tagen war ich mit Marius verabredet, um über seine Vorstellungen über die Songinterpretationen zu sprechen und dann zu proben, den darauffolgenden Tag sollte es schon ins Studio gehen, und in der zweiten Woche hatte ich einen Interviewtermin mit einem Radiosender. Aber was sollte – oder wollte – ich in der Zwischenzeit tun? Außer meine Mutter und meinen Vater und vielleicht einige alte Schulfreunde zu besuchen, fiel mir nicht viel ein, und ich merkte, dass ich keine große Lust hatte, irgendetwas zu machen. Ich wollte meine freie Zeit lieber hier verbringen, am Themseufer spazieren und auf die Towerbridge starren. Ich würde Linda besuchen, die Semesterferien hatte, und mit ihr plaudern. Aber mehr hatte ich nicht vor. Ich freute mich schon jetzt auf meine Heimkehr, dabei war ich noch nicht einmal fort!
Den Rest des Tages verbrachte ich in eisern erzwungener Ruhe: ich ging in die Stadt und kaufte Premierengeschenke für meine Kollegen, ich machte Besorgungen, ich probierte Schuhe an und kaufte keine, ich ging zurück nach Hause und kochte einen Auflauf, den ich einfror; dann sprang ich unter die Dusche und machte mich für den Abend bereit. Unter meiner falschen Ruhe brodelte es, und immer wieder redete ich mir ein: es kann nichts schief gehen, du musst nur singen, nur singen; und jedes Mal hüpfte mein Herz in freudiger, nervöser Aufregung. Als ich mich endlich mit Liam auf den Weg machte, zogen sich seine Eltern gerade für die Premiere um. Sie wünschten mir viel Glück. Ich nickte bloß. Auf der Fahrt zur Royal Albert Hall schwiegen wir beide; Liam wusste, wie aufgeregt ich war. Er küsste mich zum Abschied, ehe er schon den Zuschauerraum betrat. "Du schaffst das", sagte er, "du bist die Beste von allen! Wir werden dich ganz laut anfeuern!" Ich musste lachen und drückte ihn dankbar, ehe ich in die Garderobe ging. Hinter den Kulissen wurde ich in mehrere ebenso gezwungen-lockere Gespräche verwickelt: ja, es war ein schöner Tag gewesen; nein, meine Stimme war topfit; natürlich hatte ich Gäste dabei; aufgeregt? Klar, ein bisschen. In meiner Garderobe lagen schon die ersten Premierengeschenke. Irgendjemand hatte mir eine kleine Topfpflanze geschenkt, über die ich wieder lachen musste, und ein anderer einen Band mit englischen Gedichten. Ich setzte mich vor den Spiegel und band meine Haare zusammen, ehe ich in die Maske ging und mir mein Make-up auflegen ließ. Der kleine Michael lief mit einer Kamera herum und fragte mich mit professioneller Moderatorenstimme, wie ich mich fühle, ob ich aufgeregt sei. Ich spielte das Spiel mit und sagte, ich sei natürlich aufgeregt, und dass ich noch nie vor so vielen Leuten gesungen hätte, aber dass ich wahnsinnige Lust darauf hätte und mich schon freute, gleich in mein tolles Kostüm zu schlüpfen. Er zog zufrieden weiter, und ich warf mir meinen Morgenmantel über, weil ich mein Kleid noch nicht anziehen wollte; in meiner Unruhe würde ich womöglich noch etwas kaputt machen. Gemeinsam mit ein paar Kollegen wärmte ich mich auf, und dann ging ich mit Rupert noch ein letztes Mal auf der Bühne einige Szenen durch, ehe die Anweisung kam, uns zurück zu ziehen. Ich blieb kurz an der Bühnenkante stehen und starrte auf das Meer von leeren, roten Stühlen. Von unten, auf einem der besten Plätze, winkte Liam mir zu und ich winkte zurück. Erst, als hinten im Zuschauerraum sich eine Türe öffnete, zog ich mich rasch zurück, ließ das Stillleben des Theaters hinter mir. Alsbald zog ich dann mein Kostüm an, und viel zu schnell ging es an die üblichen Glückwünsche. Break a leg!

Wir betraten die Bühne im Dunkeln. Wir hatten das nicht geübt, und ein paar Leute rempelten wie ich gegen die Stuhlbeine, die in die ohnehin engen Gänge ragten. Schließlich aber fand ich meinen Platz, und unter Applaus setzten wir uns. Ich sah zum Dirigenten, lächelte ihm zu, als er die Hände dramatisch hob, und das Konzert begann.
Die Atmosphäre und Professionalität der Proben setzte sich im Konzert fort: es passierte kein einziger Fehler. Ich kannte meine Stichworte und nahm rechtzeitig meine Plätze ein. In der Pause herrschte gute Stimmung, und als der zweite Akt mit "Lily's Eyes" begann, lachten Henry, der den Gärtner spielte, und ich, bis wir Tränen in den Augen hatten, weil Ruperts Duettpartner an einer Stelle immer so schwungvoll sang, dass es gar nicht in den Song passte und wir es pantomimisch einfach nachmachen mussten. (Später sollte ich sehen, dass wir trotz unserer Plätze im Schatten auf den Videoaufnahmen deutlich dabei zu sehen waren, wie wir dramatisch die Münder aufrissen und mit großen Gesten über die beiden Singenden herzogen.) Mein zweites Duett mit Rupert, auf das ich mich sehr freute, war selbst für mich ergreifend. Aber ich durfte nicht weinen, es passte nicht zu meiner Rolle; trotz meiner Bemühungen, die Tränen zurückzuhalten, fühlte ich, dass wir es geschafft hatten, dass wir ein Duett gesungen hatten, das die Zuschauer von den Stühlen reißen würde - und tatsächlich: der Applaus wollte kaum enden. Am Ende des Konzertes war es trotz aller Selbstbeherrschung um mich geschehen: als ich durch die Zuschauerreihen schritt, barfuß, die Akrobaten um mich herum und den Blumenschmuck, der im plötzlichen Scheinwerferlicht, das alle in seine Wärme tauchte, wunderschön leuchtete, überkam mich eine Ergriffenheit, die ich noch nie erlebt hatte; meine Schlussverse waren etwas wacklig, aber das tat dem Abend keinen Abbruch. Ich hatte das Gefühl, der Applaus dauere ewig. An diesem Abend umarmte ich gefühlt jeden Zuschauer. Liam kam mit roten Wangen auf mich zu und sah so stolz aus, als habe er gerade die schwerste Partie gesungen, die es zu singen gab, und drückte mich an sich, als wolle er mit mir verschmelzen. "Du warst großartig, Anouk, großartig! So habe ich dich noch nie singen sehen!" Auch seine Eltern beglückwünschten mich und schenkten mir einen großen Blumenstrauß, der zwischen den drei anderen, die sich schon in meinen Armbeugen drängten, allerdings etwas unterging. "Hätten wir gewusst, dass es so viele gibt, hätten wir was anderes besorgt", sagte Ilene beschämt, aber ich winkte ab: Blumen könne man doch nie genug haben! Liam warf mir einen amüsierten Seitenblick zu: er wusste, dass mein Daumen alles andere als grün war und dass sich meine Kollegen und Garderobieren immer der Sträuße annahmen, ehe sie elend verwelkten.
Später auf der Feier, als viele Zuschauer schon gegangen und nur noch die Darsteller mit ihren engsten Freunden und Familienmitgliedern da waren, nahm Rupert mich zur Seite. "Hör mal, Anouk", begann er, und seine Frau, eine nette, ganz bodenständige Frau, lächelte mir freundlich zu, "ich habe dir kein Premierengeschenk gegeben, wie du vielleicht gemerkt hast..." Ehrlich gesagt hatte ich das nicht; ich wusste vor lauter Geschenken inzwischen kaum mehr, wo mir der Kopf stand; neben zahlreichen essbaren Sachen und Glückwunschkarten hatte ich eine Menge Freikarten für das halbe West End bekommen. "Ich, oder besser wir, haben etwas anderes für euch..." Er streckte die Hand aus, und seine Frau zog einen Umschlag aus ihrer Tasche und gab ihn ihm. "Hier. Es ist nicht direkt ein Geschenk, es ist eher, hm, der Anfang eines solchen. Ein Geschenk müsst ihr draus machen... Aber seht selbst!" Liam, der dazu gekommen war, legte gespannt das Kinn auf meine Schulter, als ich den Umschlag öffnete. Darin lag ein Blatt, von dem ich schon Tausende gesehen hatte und die ich eigentlich nie wieder sehen wollte: eine schlichte, einfache Hausbeschreibung: Queen's Gate Mews, London SW7 5QN. 5 Zimmer, Küche, 2 Badezimmer. Das perfekte Haus für Künstler mit oder ohne Familienplanung, hatte jemand schwungvoll darunter geschrieben, und dann eine Zahl, einen Preis, der aber unmöglich dem Haus gelten konnte. Ich sah noch einmal auf die Adresse und stutzte. "Moment mal. Ist das nicht deine Adresse?" Ich sah Rupert an. Seine Frau lächelte. "Wir haben ein neues Haus gefunden. Etwas ruhigere Gegend. Und Rupert erzählte mir von dieser dummen Geschichte mit eurer Wohnung, und dass du die Mews magst, und da dachten wir..." Sie sahen sich an und lächelten beide liebevoll.
"Da dachten wir, wir helfen ein paar jungen Künstlern, die hier Fuß fassen wollen, und machen ihnen einen Freundschaftspreis", beendete Rupert den Satz. Er hatte kaum ausgesprochen, da drückte Liam ihm schon die Hand wie einem heiligen.
"Aber das können wir unmöglich annehmen!", stammelte ich. "Das ist doch... das ist viel zu günstig! Ihr macht doch Verluste!" Rupert schmunzelte.
"Aus der Lage, dass wir Verluste machen, sind wir heraus, zum Glück!", sagte er. "Macht einen Termin mit meiner Frau aus, dann zeigen wir euch das Haus. Ablehnen könnt ihr immer noch. Wie gesagt: ihr bestimmt, ob es ein Geschenk wird!" Die beiden drehten sich um und zogen sich zurück, und Liam und ich standen da, den Zettel immer noch von uns gestreckt, und starrten darauf.
„Das ist hier“, sagte Liam irgendwann in die Stille hinein, die in meinem Kopf dröhnte, und damit brach er den Bann des Schrecks; das Lärmen und Lachen der Feier drang wieder zu mir durch. „Was?“
Er tippte auf die Adresse. „Das ist hier, hier ganz in der Nähe. Vielleicht zehn Minuten Fußweg.“
„Es ist immer noch ziemlich teuer!“, stellte ich fest. Der Preis war zwar bedeutend niedriger als der, den wir für das vergangene Angebot hätten zahlen müssen, aber er war trotzdem happig.
„Aber erschwinglich für uns.“ Er schüttelte den Kopf. „Dass wir mal so ein Glück haben, nach allem…“
Ich nickte bloß, bis mir etwas einfiel: „Wir können das Haus allerdings erst mal nicht besichtigen, das heißt, nicht zusammen. Ich habe keine Zeit, ich fliege in drei Tagen.“ Ich sah ihn an. „Vielleicht siehst du es dir an“, schlug ich vor, „allein. Ich werde sehen, dass ich schnell wieder nach Hause komme.“
Liam stimmte meinem Vorschlag zu. Ich faltete das Papier zusammen und schob es in seine Hemdtasche. Dafür, dachte ich, werde ich Rupert niemals genug danken können.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 04.11.2016, 13:44:15
von Gaefa
Juhu ein neuer Teil.
Es freut mich sehr, dass die Premiere des Konzerts gut gelaufen ist für Anouk. Das mit der Wohnung bzw. dem Haus ist echt super. Ich hoffe, dass da jetzt alles glatt geht. Es stellt sich nur noch die Frage nach dem Folgeengagement für Anouk, wenn sie wieder in London ist. Ich hätte übrigens eine deutlichere Reaktion Liams auf "...dass ich schnell wieder nach Hause komme" im Bezug auf zu Hause und London erwartet. Aber das ist auch das einzige, was ich an dem Teil bemängeln könnte ;)
Bitte bald weiter.

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 06.11.2016, 18:10:11
von armandine
Wunderbar, eine neue Wohnung! Das freut mich aber für die beiden. Im übrigen bin ich auch gespannt, was als nächstes kommt!

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 12.11.2016, 10:47:06
von Ophelia
Schön, dass es euch gefällt :) Heute geht es mit dem neuen Teil weiter:

In Deutschland war es genauso kalt und verregnet wie in London. Ich kam am Flughafen an und wurde von meiner Mutter und ihrem neuen Freund abgeholt. Er war ganz nett, etwas rundlich, und Geschäftsmann; das passte eigentlich gar nicht zu ihr. Meine „Arbeit“, wie er es nannte, befremdete ihn etwas; als wir in seinem schicken Wagen saßen und nach Hause fuhren, versuchte er erst mitzureden, schwieg dann aber irritiert und lenkte das Auto durch die Straßen. Ich setzte meine Mutter über die neue Wendung in der Wohnungssuche in Kenntnis, und es war nicht überraschend, dass ihre Freude zurückhaltend war. Der Kurs, den ich mit einem Hauskauf in London einschlug, war eindeutig.
Ich war froh, ihrer Gesellschaft schnell zu entkommen. Alles fühlte sich unwirklich an, die vertraute Umgebung ging mir schon nach wenigen Stunden auf die Nerven, und ich empfand meine Mitmenschen plötzlich als grimmig und zugeknöpft. Im Bus verursachte ich einen Menschenstau, weil ich zwischen den ganzen Pfundnoten und Pennystücken kaum genug Euros fand, um mein Ticket zu bezahlen, und als ich in dem Café ankam, in dem ich mit Marius verabredet war, wünschte ich mich schon wieder weit fort. Wir hatten uns länger nicht gesehen, aber ich fand, er hatte sich, bis auf das schulterlange Haar, kaum verändert; er hingegen sah suchend an mir vorbei, als er das Café betrat, und ich musste von meinem Platz aufstehen und ihm zuwinken, damit er mich bemerkte.
„Meine Güte, Anouk!“, sagte er, nachdem wir uns umarmt hatten, und musterte mich. „Ich habe dich kaum wiedererkannt! Du siehst fantastisch aus, richtig elegant!“
„Tatsächlich?“ Ich sah an mir herunter – ich trug eigentlich meine gewohnten Sachen. Aber, fiel mir dann ein, meine gewohnten Sachen waren inzwischen anderer Art als in meinen Studienjahren – damals hatte ich Jeans und Pullover und einfache Zöpfe getragen, keine wadenlangen Mäntel in Königsblau oder schwarze Schuhe mit Absatz und dazu passende Taschen… „Das ist wohl wegen London“, lenkte ich halb im Scherz ein, „London macht einen richtig verwöhnt.“ Wir setzten uns.
„Ich kann nicht glauben, wie erwachsen du bist“, sagte er. „Natürlich habe ich von dir gelesen, aber… Wie ist es in London? Wie läuft es an den Theatern? Was hast du alles gemacht?“
Ich erzählte ihm von meinen Engagements, der Wohnungsmisere, Liams Eltern, der Stadt, den Leuten, meinen neuen Freunden und schrecklichen Kollegen, und ganz zum Schluss von dem großzügigen Premierengeschenk.
„Also willst du in London bleiben?“, fragte auch er.
„Ja“, antwortete ich, diesmal ohne zu zögern. „Erst fand ich den Gedanken schrecklich, so lange fort zu sein, aber jetzt… strengt mich Düsseldorf ziemlich an! Außerdem hat Liam einen guten Job, und falls es mit dem Haus klappt, ist das keine Anschaffung für kurze Zeit.“
„Habt ihr das Haus schon angesehen?“
„Nein“, antwortete ich, „Liam macht demnächst eine Stippvisite, ehe wir es zusammen besichtigen. Aber… es hat eine optimale Lage, nahe der Royal Albert Hall und des Hyde Parks. Eine tolle Gegend.“
„Klingt elegant.“
„Ist es, ist es…“ Ich versank kurz in einem meiner unzähligen Tagträume, in denen Liam und ich Arm in Arm durch die kleinen Gässchen schlenderten und uns des Lebens freuten, ehe ich mich blinzelt dazu durchrang, zum Geschäftlichen zu kommen. „Also“, sagte ich, „wie hast du dir die Aufnahmen eigentlich vorgestellt?“, und in den nächsten zwei Stunden versanken wir in Fachsimpeleien über Songaufnahmen, Interpretationen und Medley-Zusammenstellungen.

Zuhause – das heißt, in der Wohnung, in der nun auch der Freund meiner Mutter mit dem unsäglichen Namen Bertold (ich nannte ihn immer „Du“ oder begann Unterhaltungen mit „ähm, übrigens…“) lebte, probte ich für mich in meinem Zimmer die beiden Songs. "Totale Finsternis" sang ich eigentlich nur zum Spaß, ich konnte es ja inzwischen ganz gut, aber in den Elisabeth-Medley musste ich mich erst noch hinein denken. Das Ganze ging genau einen Tag lang gut, bis ich durch Zufall ein Gespräch zwischen meiner Mutter und ihrem Freund mit anhörte, als ich in der Küche nach einem Schokoriegel suchte. Die gedämpften Stimmen aus dem Wohnzimmer, die schon immer ein besonderes Gesprächsthema verheißen hatten, ließen mich aufhorchen. Ob ich immer übe, fragte er, und wie lange denn so am Tag?
„Ich weiß nicht, nicht sehr lange am Stück, aber immer mal wieder“, entgegnete meine Mutter arglos. „Warum fragst du?“
Nach einigem Rumgedruckse sagte er schließlich, es sei eine ungewohnte Situation, und überhaupt: „Heute ist Samstag, Wochenende, weißt du, und ich hatte eine anstrengende Woche, also…“ Seine Stimme wurde immer leiser, und ich brauchte nicht viel Fantasie, um mir den Blick meiner Mutter vorzustellen.
„Ich habe dir gesagt, dass das passieren kann“, sagte sie abweisend. „Wenn es dir nicht passt, musst du halt spazieren gehen oder so. Anouk ist nicht lange hier, aber ihre Zeit Zuhause will ich ihr nicht durch irgendwelche Verbote vermiesen.“
Ich hörte noch ein gemurmeltes „Ich meinte ja nur…“, dann wurde der Fernseher eingeschaltet, demonstrativ auf laut gestellt und das Gespräch erstarb. Ich schlich zurück in mein Gästezimmer und zwang mich trotz den verteidigenden Worten meiner Mutter, für den Rest des Tages das Üben einzustellen.

Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg in die Stadt, zu der Musikschule, an der alles begonnen hatte. Es war ein seltsames Gefühl, sie wieder zu betreten – es roch immer noch nach Linoleum, ausgetretenen Teppichen und altem Parfum, aber die Frau hinter dem Tresen war eine andere, und von irgendwoher hörte ich die schiefen Stimmen eines Kinderchores.
„Hallo“, sagte ich und beugte mich über den Tresen, „ich würde jemanden sprechen, aber ich weiß nicht genau, ob er hier noch arbeitet…“
„Wenn es eine Lehrkraft ist, kann ich Ihnen ganz einfach Auskunft geben“, erwiderte die Dame freundlich, „haben Sie denn einen Namen?“
„Ja, natürlich. Es ist ein Lehrer, ein Gesangslehrer. Bertelin heißt er, ich meine, Claus Bertelin.“
„Ah, ja. Er arbeitet noch hier, allerdings gibt er gerade einen Schulkurs.“
„Ich habe Zeit.“
„Oh.“ Sie sah mich prüfend an, und ich lächelte rasch zurück. „Bitte“, sagte ich, „er ist ein alter Lehrer und ich würde ihn gern besuchen.“
„Tja, also…“ Sie wandte sich dem PC zu und scrollte durch eine Liste, die ich von der Seite nicht genau erkennen konnte. „Also, in einer Stunde kommt er zurück, aber er hat bereits kurz danach wieder einen Schüler…“
„Das macht nichts“, erwiderte ich rasch, „ich warte hier solange.“
„In Ordnung“, sagte sie, sichtlich unsicher, ob sie das Richtige gemacht hatte.
„Sagen Sie ihm einfach, Anouk Steger ist hier“, sagte ich und schrieb den Namen auf einen Werbeflyer für das Kinder-Orchester. „Wo kann ich auf ihn warten?“
Sie nahm den Zettel entgegen und ich sah, wie ihre Augen immer wieder den Namen lasen, als müsste er ihr etwas sagen.
„Ja, er unterrichtet immer in Raum A3, er ist…“
„…hier gleich links den Gang runter, zweite Tür rechts“, fiel ich ihr grinsend ins Wort, „ich weiß schon. Vielen Dank.“ Ich folgte den vertrauten Wegweisern und drückte, am Raum angekommen, probeweise die Klinke. Die Türe war nicht verschlossen. Rasch warf ich einen Blick zurück, aber vom Tresen aus würde man mich nicht sehen können, und sonst war niemand zu sehen. Schnell schlüpfte ich durch die Türe und schloss sie rasch wieder. Ich sah mich um. Es roch nach Holz und Farbe, und der graue Teppichboden war durch einen neuen, dunkelblauen ersetzt. Die Wände waren weiß gestrichen, und es hingen Bilderrahmen daran. Es gab auch ein neues Klavier, einen richtigen Flügel, aber an die Wand geschoben stand immer noch das alte, abgewetzte Instrument, das ich von meinen Stunden hier kannte. Ich strich mit den Händen über den Deckel, und es blieb kein Staub an meiner Haut kleben. Bertelin musste immer noch darauf spielen, vielleicht sogar lieber als auf dem glänzenden Flügel. Langsam und leise ging ich entlang der Wände, sah die Bilderrahmen an. Sie zeigten alte Schüler, die mit Hilfe Bertelins etwas geschafft hatten – ich sah Jugendliche auf Probebühnen, Erwachsene hinter hohen Mikrofonen, und zwischen all den Gesichtern lächelte auch ich mich an – ein jüngeres Ich, etwas pausbäckiger und hellhaariger als jetzt, ich saß auf einer Bühne auf einer Bank und hielt einen Zeichenblock in den Händen. Unter jedem Foto klebte ein kleines Schildchen; auf meinem stand „Anouk Steger, Ich in Rebecca.“ Ich fuhr mit dem Finger über die Rahmenkante und wischte etwas Staub ab, dann zog ich mein Handy und fotografierte den Rahmen mit meinem Bild. Dann gab es für mich nichts zu tun. Ich spürte ein bekanntes Drängen in mir und setzte mich an den Flügel. Der Hocker davor war weich und hoch gepolstert, so ungemütlich wie nur ein neuer Hocker sein konnte. Ich klappte den Deckel auf und legte meine Finger auf die Tatstatur. Ich konnte noch nie richtig spielen, aber viele Lieder, die ich gesungen hatte, konnte ich immerhin begleiten – gelernt hatte ich das durch pures Abschauen und Nachmachen. Ich sang als erstes Totale Finsternis, ganz allein, dann versuchte ich, einige Elisabeth-Songs nach Gehör zu spielen, aber das klappte natürlich nicht, also blieb ich bei bekannteren Sachen: "Nur für mich", das erste Lied, das ich hier gesungen hatte, "Zeit in einer Flasche", ein Stückchen „Love never dies“. Zwischendrin machte ich immer wieder kleine Pausen, in denen ich Stimmübungen einlegte, dann sang ich „Only love“, das ich durch mein erst kurz zurückliegendes Vorsingen noch am besten Spielen konnte.
Der Flügel war laut und ich saß mit dem Rücken zur Tür, deswegen bemerkte ich nicht, dass die Stunde um und Bertelin zurück gekommen war. Erst als ich endete und jemand hinter mir in die Hände klatschte, drehte ich mich rasch um.
„Nun klatsch schon Jonathan, klatsch schon!“ Er lachte mich an. „Anouk Steger!“, dröhnte er und kam auf mich zu, um mich zu umarmen. Sein Schüler stand immer noch etwas irritiert in der Türe.
„Als die Sekretärin mir den Zettel gab, konnte ich’s kaum glauben! Ich habe letztens noch mit dir angegeben, als hätte ich’s geahnt!“
Ich lächelte. „Also, das machen Sie immer noch?“
Er lachte. „Nicht mehr so oft wie früher, aber als du Elisabeth gespielt hast, hatte die Geschichte wieder ein Hoch.“ Er winkte seinen Schüler zu sich. „Jonathan hier probt heute auch etwas aus Elisabeth, vielleicht möchtest du da bleiben? Ich habe danach ein Stündchen Zeit, für welches Anliegen auch immer.“
Ich warf einen kurzen Blick auf Jonathan, der die Vorstellung meiner Anwesenheit gar nicht gut fand.
„Wissen Sie, ich warte draußen“, sagte ich rasch, „ich habe etwas zu lesen dabei.“ Ich zog mich nach draußen zurück, und als drinnen die ersten Tasten angeschlagen wurden, rief ich zu Hause an und sagte meiner Mutter, wo ich war.
„Willst du deinen alten Lehrer besuchen?“, fragte sie.
„Das auch, aber eigentlich bin ich auf der Suche nach einem Probenraum für die Wochen, die ich hier bin. Ich habe vor, in London zu Auditions zu gehen, dafür will ich üben.“ Die Antwort kam ganz spontan, aber als ich sie aussprach wusste ich, dass es wahr war: ich würde mich nach neuen Jobs umsehen müssen.
„Aber das kannst du doch hier!“, sagte meine Mutter. „Du hast doch auch gestern geübt.“
„Ja, und ich habe gestern auch gehört, was dein Freund davon hält.“
Es entstand eine kurze Pause. „Ach, Anouk“, sagte sie schließlich verlegen, „ich habe das mit ihm geklärt, alles in Ordnung…“
„Ich will nur nicht, dass es Streit gibt“, sagte ich abwehrend, „und jetzt, wo ich weiß dass er sich gestört fühlt, kann ich sowieso nicht unbefangen proben. Ich will Bertelin fragen, ob ich hier einen Raum kriege, und sei es nur für ein paar Stunden.“
„Oh Anouk, bitte sei ihm nicht böse!“, sagte sie. „Es ist nur so neu für ihn, er kennt dich gar nicht richtig…“
„Schon okay, Mama“, erwiderte ich rasch, „ich verstehe das. Ich glaube, es ist so für alle besser.“
Nach dem Telefonat wartete ich in einem der großen Sessel, bis Jonathan mit roten Wangen aus dem Probenraum trat. Ich lächelte ihm zu, als er an mir vorbei ging, und als er den Gang hinunter lief blieb er plötzlich stehen, drehte sich noch einmal um und kam zurück, um nach einem Autogramm zu fragen, „weil ich noch nie eine Musicaldarstellerin getroffen habe.“ Trotz der wirren Erklärung gab ich ihm eines. Bertelin lachte darüber, als ich in den Raum kam.
„Jonathan strebt auch ein Musical-Studium an“, erklärte er, „im Moment ist er also begeistert von allem, was damit zu tun hat. – Und jetzt erzähl mir, warum du gekommen bist.“
Ich legte ihm die Situation rasch dar: dass ich einen Probenraum brauche, wenigstens für ein paar Tage, um mich für die Aufnahmen vorzubereiten, ob er vielleicht aushelfen könne. Ich würde auch bezahlen.
„Papperlapapp“, er wischte mit der Hand durch die Luft, „hier wird gar nichts bezahlt. Ich habe nachmittags immer zwei freie Stunden, in der Zeit kannst du diesen Raum nutzen, und falls ich in meinem Plan noch ein paar Löcher finde, kannst du die auch gerne nutzen.“
Ich war erleichtert. „Danke“, sagte ich, „dass Sie mir auch jetzt noch gratis aushelfen.“
Er musste lachen. „Wenn du möchtest, nehme ich das in meine Erzählungen mit auf“, sagte er, „damit ich dich nicht zu sehr lobe.“

Re: Mich trägt mein Traum

Verfasst: 12.11.2016, 16:05:36
von Gaefa
Schön, dass alte Freunde ihr noch helfen. Die Idee, Bertelin zu besuchen, bei dem alles angefangen hat, finde ich grandios. Ich bin auf die Auditions in London schon gespannt, mal sehen, was als nächstes auf die zukommt. Auf der einen Seite schade, dass sie sich in Deutschland nicht mehr wohl fühlt, auf der anderen Seite aber auch gut, dann weiß sie, dass London gerade das richtige ist.
Aber nochmal zum Haus: Wollen sie das jetzt kaufen oder mieten? Das hab ich aus den Beschreibungen nicht ganz ausmachen können, mal klang es so und mal so.
Ich hoffe, es geht bald weiter :)