Je suis une femme

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Beitragvon Sisi Silberträne » 11.07.2006, 15:09:53

Inhalt: Eine 3M Fanfiction. Kein Mensch wird eiskalt und berechnend geboren, das Leben selbst entscheidet zu welchem Erwachsenen ein Kind heran wächst. Hier erzählt Anne de Breuil, später Milady de Winter, nun ihre Lebensgeschichte. Basiert natürlich auf dem Musical, ich habe mich aber auch auf http://www.artagnan.de schlau gemacht, und einiges von dort aufgenommen, damit die Geschichte in sich schlüssiger wird.

Genre: Drama

Rating: P18

Disclaimer: das Musical die drei Musketiere gehört Stage Entertainment

Author's Note: Hier mal der Anfang. Wenn euch die Geschichte interessiert und ihr mehr lesen wollt, würde ich mich über einen Kommentar freuen :)

~~~~~~~~~~


Je suis une femme
~ die Schuld eine Frau zu sein ~

von Sisi


Prolog


Mein Herz rast. Die kalten Steinwände des Klosters verschwimmen vor meinen Augen, der Hall meiner eigenen Schritte klingt sonderbar irreal. Er ist hinter mir, ich kann ihn hören. Welches Schicksal mir blüht, möchte ich mir nicht ausmalen. Treppen um Treppen scheuchen er und seine Begleiter mich aufwärts. Schließlich erreiche ich eine kleine Tür, die sich unversperrt heraus stellt, als ich die Klinke hinunter drücke. Dahinter liegen erneut Stufen. Bevor ich mich noch über das Vorhandensein der kühlen Zugluft wundern kann, stehe ich im Freien auf einer schmalen Plattform direkt unter dem Dach des großen Karmeliterklosters.

Hier geht es nicht mehr weiter, ich habe das Ende erreicht. Das Ende wovon? Meine Hände umfassen das schmiedeiserne Geländer und ich schaue darüber hinweg. Weit unter mir liegt der Platz vor dem Gebäude Ich sehe die gepflegten Blumenbeete, sowie den kunstvoll verzierten Brunnen. Die Spitze eines Degens berührt mein Schulterblatt, ich drehe mich daraufhin ruckartig um. Im hellen Sonnenlicht erkenne ich in seinen Augen beißenden Hass, von dem ich weiß, dass er mir gilt. Mein Herz krampft sich zusammen, und ich senke den Blick.

„Wartet...“, beginne ich. „Was habt Ihr nun mit mir vor? Wollt Ihr mich einfach hinunter stoßen? Dazu habt Ihr kein Recht!“
„Ihr habt einen Menschen getötet, Ihr wisst doch nicht einmal, was das Wort Recht bedeutet“, herrscht mich einer der beiden anderen Männer an, der große rundliche mit den braunen Locken.
„Ich handelte im Auftrag des Kardinals...“
„Schweigt!“
Der dritte im Bunde, drahtig und dunkelhaarig, hebt abwehrend die Hände. „Immer mit der Ruhe, Porthos. Eine letzte Beichte steht jedem zu – auch ihr.“

Weil er bisher geschwiegen hat, suche ich den Blickkontakt zu ihm. Was mag in seinem Kopf vorgehen? Er sieht mich ebenfalls an. Kalt.
„Warum bist du zurück gekommen?“
„Deinetwegen, Olivier.“ Verzweifelt suche ich in seinem Gesicht nach irgendeiner Regung. „Aber zuerst musste ich meine Ehre wiederherstellen. Richelieu versprach mir, mich von meinem Schandmal zu befreien. Und dann wollte ich mich auf die Suche nach dir machen...“
Sein Ausdruck bleibt unverändert. Ich weiß nicht einmal, ob er noch etwas für mich empfindet, oder ob ich einer Illusion nachgelaufen bin.

„Euer Urteil“, sagt er schließlich an seine Gefährten gewandt.

Ich schlucke hart, mir ist klar, was nun folgt. So schwer es mir fällt, dieses Gefühl vor mir selbst einzugestehen, ich habe Angst. Wenn ich jetzt sterbe, sterbe ich allein und ungeliebt. Vielleicht habe ich es auch nicht anders verdient. Jener Satz begleitet mich schon seit meiner Kindheit, die ich in einer Ortschaft nahe Paris verlebte. Mein Vater besaß dort ein Weingut. Ich hatte das Glück in eine gutbürgerliche Familie hinein geboren zu werden, zumindest sollte man dies annehmen. Aber so war es nicht. Das Schicksal tritt mich, seit ich ein kleines Mädchen war, und irgendwann habe ich aufgehört nach einem Grund dafür zu suchen. Die einzige Schuld, die ich schon seit damals trage, ist die, eine Frau zu sein.
Zuletzt geändert von Sisi Silberträne am 17.01.2010, 18:45:39, insgesamt 4-mal geändert.
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Beitragvon Kitti » 11.07.2006, 15:24:56

Sehr schön! Gefällt mir wieder mal super. Aber eine kurze Frage: Warum heißt Athos hier Armand? Oder meinst du nicht Athos? :oops:

Edit: Würd mich freuen, wenn du die nächsten Teile meiner Story auch lesen und kommentieren würdest. ;-)

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Beitragvon Sisi Silberträne » 11.07.2006, 15:29:41

Kitti> Die historische Vorlage für Athos heißt Armand. Im Buch heißt er eigentich Olivier, aber Armand gefällt mir besser *pfeif*
Deine Geschichte les ich heut Abend noch, versprochen. Muss erst mal Wohnung aufräumen, weil meine Eltern morgen wieder kommen.

Ich reich gleich mal das erste Kapitel nach, weil der Prolog gar so kurz ist...



Kapitel 1


Vor dem Fenster ging langsam die Sonne unter. Ich saß auf meinem Bett und starrte vor mich hin. Meine Eltern und meine beiden Halbbrüder, die Mama aus ihrer ersten Ehe mitgebracht hatte, waren noch unten beim Essen. Papa hatte mir befohlen auf mein Zimmer zu gehen, weil ich versehentlich mit der Bratensoße gekleckert hatte. Es war doch keine Absicht gewesen. Auch Etienne, mein Bruder, der neben mir saß, sagte das. Doch Papa hörte nicht darauf, er sah keine Notwendigkeit dazu, Pascal und er waren ja nicht seine richtigen Söhne. Ich war sein einziges Kind. Noch jedenfalls. Aber bald würde sich das ändern. Mamas Bauch war schon so groß, lange konnte es nicht mehr dauern. Und Papa redete ständig davon, wie sehr er sich auf seinen Sohn freute. Die Möglichkeit, dass es ein Mädchen wurde, wie ich, schien für ihn gar nicht zu existieren. Daran, dass er sich bereits bei meiner Geburt einen Jungen erhofft hatte, bestand kein Zweifel, das hatte er mich sechs Jahre lang spüren lassen.

Im Grunde war ich froh nicht mehr beim Essen sitzen zu müssen. Ich fühlte mich matt, hatte keinen Appetit und das Schlucken tat mir weh. Nachdem ich in mein Nachtgewand geschlüpft war, kroch ich unter die warme Bettdecke, um darauf zu warten, dass Mama gute Nacht sagen kam. Eine ganze Weile lauschte ich der Stille. Mir war kalt, obwohl ich mir die Decke bis zum Kinn hoch gezogen hatte.
Irgendwann wurde die Tür meines Zimmers geöffnet und Mama betrat den Raum. Ich musste nicht hinsehen, um das zu wissen, denn ich erkannte es an ihren Schritten. Liebevoll strich sie mir übers Haar, legte gleich darauf etwas verwundert die Hand auf meine Stirn.
„Anne, Chérie, du bist ja ganz heiß. Fühlst du dich nicht gut?“ fragte sie ein wenig besorgt, mit ihrer warmen sanften Stimme, die ich so liebte.
„Ich bin nur ein bisschen müde“, antwortete ich leise.
Für einen Moment verzog sie das Gesicht, dann lächelte sie, nahm meine kleine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Ich grinste breit, als ich die Bewegungen des Kindes fühlte. Das war mein kleines Geschwisterchen!
„So, nun musst du aber schlafen“, sagte sie schließlich. „Träum süß.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, ehe sie mein Zimmer verließ und hinter sich sacht die Tür schloss.

Am nächsten Morgen konnte ich kaum aufstehen. Mir war schlecht, mein Hals tat so weh, dass ich kaum schlucken konnte, und obwohl ich fast nichts aß, musste ich mich übergeben. Abwechselnd war mir heiß und kalt. Als Mama mich so sah, steckte sie mich sofort wieder ins Bett. Sie machte sich große Sorgen, und obwohl sie mir versicherte, dass es mir bald wieder besser gehen würde, ahnte ich, dass ich mir etwas Schlimmes eingefangen hatte.
Der Arzt kam, um mich zu untersuchen. Ich mochte ihn nicht, hatte Angst vor seinen Geräten. Dennoch ließ ich alles klaglos über mich ergehen, für einen Protest fühlte ich mich zu ausgelaugt. Er gab mir etwas, das mein Fieber senken sollte, und das einfach fürchterlich schmeckte. Hoffentlich half es.
Mama kümmerte sich die nächsten Tage jede Minute aufopfernd um mich. Ich war ihr dafür unendlich dankbar. Dagegen schien es Papa überhaupt nicht zu interessieren, dass ich so krank war. Als Mama mein Zimmer verließ, um wieder etwas von dem Medikament für mich zu holen, konnte ich hören, wie er vor meiner Tür mit ihr schimpfte. Jedes Wort verstand ich.
„Thèrèse, ich will nicht, dass du ständig bei der Kleinen bist, du könntest dich anstecken“, sagte er vorwurfsvoll. „Sie schläft sowieso fast die ganze Zeit.“
„Woher willst du das wissen?“ entgegnete Mama scharf. „Du hast kein einziges Mal nach ihr gesehen. Anne braucht mich, ich werde sie jetzt nicht allein lassen!“
Er schnaufte, das tat er immer, wenn er wütend war. „Herrgott, denk doch auch an das Kind, das du unter dem Herzen trägst! Was ist, wenn du dich ansteckst?“
„Das Risiko muss ich eben eingehen. Und nun geh mir bitte aus dem Weg, unsere Tochter muss ihre Medizin bekommen.“
„Thèrèse“, begann er ein weiteres Mal, seine Stimme war nun leiser. „Hast du die Worte des Arztes schon vergessen?“
Mama schnappte nach Luft. „Claude, wie kannst du so etwas nur sagen? Überhaupt nur denken? Anne wird nicht sterben! Sie wird gesund, ich weiß es.“

Traurig wandte ich mich ab, wünschte ich hätte dieses Gespräch nie gehört. Alles was Papa interessierte, war das noch nicht geborene Kind, von dem er hoffte, nein erwartete, dass es ein Junge war. Ob ich lebte oder starb, war ihm egal. Konnte ich denn etwas dafür, dass ich als Mädchen auf die Welt gekommen war? Ich hatte mir das doch nicht ausgesucht. Warum gab er mir die Schuld?
Aber in einem hatte er recht. Ich wollte auch nicht, dass Mama sich bei mir ansteckte und selbst krank wurde. Sie ließ sich jedoch nicht davon abhalten, mich zu pflegen. Stundenlang saß sie an meinem Bett und hielt meine Hand, als das Fieber so hoch war, dass es meine Sinne vernebelte. Ihre Fürsorge ließ mich kämpfen, und schließlich begann es mir wieder besser zu gehen. Doch dann geschah das, was Papa befürchtet hatte. Mama wurde krank.

Ich machte mir solche Vorwürfe, sie hatte sich bei mir angesteckt. Immer wieder bettelte und bat ich sie sehen zu dürfen, doch Papa ließ mich nie zu ihr. Ab und zu schaffte ich es mich heimlich in ihr Schlafzimmer zu schleichen. Einmal, als mir das wieder gelungen war, saß ich bei ihr auf dem Bett und hielt ihre Hand. Genauso wie sie es bei mir getan hatte. Sie sah mich aus trüben Augen an, dankbar dafür, dass ich gekommen war.
„Mama, du wirst doch gesund, oder?“ flüsterte ich. „Und meinem Geschwisterchen wird auch nichts geschehen, richtig?“
Sie seufzte schwach, drückte zärtlich meine Hand. „Ja natürlich, mein Schatz. Es geht mir bestimmt schon bald wieder besser.“ Für einen Moment unterbrach sie sich. „Anne, du musst jetzt gehen, bevor der Papa zurück kommt. Sonst wird er furchtbar böse mit dir.“
„Ich will aber bei dir bleiben“, jammerte ich verzweifelt. Ich konnte nicht verstehen, warum ich nicht zu Mama durfte.

„Anne!“
Als Papa meinen Namen schrie, zuckte ich erschrocken zusammen, ich hatte die Tür gar nicht gehört. Er riss mich grob am Arm fort von dem Bett und zog mich aus dem Raum.
„Claude bitte, sei nicht so streng mit ihr“, hörte ich im Hintergrund Mamas Stimme. Dann fiel die Tür zu.
„Ich hatte dir doch verboten, dich auch nur in der Nähe des Zimmers blicken zu lassen!“ donnerte er. „Warum kannst du nicht hören?“
Er schlug mich so heftig, dass ich gegen die Wand hinter mir fiel. Vor Schmerz und Angst schrie ich auf, Tränen strömten meine Wangen hinab. Doch er ließ mich nicht los, sondern zerrte mich zu meinem Zimmer, wo er mich einschloss. Ich weinte bitterlich, verstand die Welt nicht mehr. Was war denn so falsch daran, dass ich Mama lieb hatte, mir Sorgen machte, und sie sehen wollte?

Erst im Laufe des nächsten Tages ließ mich Pascal wieder aus dem Zimmer. Er nahm mich in den Arm, tröstete mich. Etienne und er hatten mich gern. Sie verstanden wohl auch nicht, warum Papa so garstig zu mir war. Im Blick meines Halbbruders erkannte ich, dass etwas Schlimmes vorgefallen war.
„Pascal... was ist denn?“ fragte ich ihn leise. Er wollte mir etwas sagen, doch offenbar wusste er nicht wie. „Ist etwas mit Mama? Ist sie...“
Behutsam ergriff er mich an den Schultern, sah mich ernst an. „Mama geht es so weit gut, du musst dir um sie keine Sorgen machen, Anne...“
„Was dann? Bitte sag es mir!“
„Unser kleiner Bruder, er... wurde heute morgen tot geboren.“
„Nein!“ rief ich aus. Das konnte nicht sein! Mein Geschwisterchen lebte nicht mehr? Dass Pascal von einem Bruder gesprochen hatte, bekam ich zunächst nicht richtig mit. Tränen liefen unaufhaltsam meine Wangen hinab. Ich war unfähig noch irgendetwas zu sagen, weinte nur verzweifelt in Pascals Schulter. In meinem Inneren wusste ich, dass nun einiges anders würde.
Zuletzt geändert von Sisi Silberträne am 13.11.2006, 19:10:15, insgesamt 2-mal geändert.
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Beitragvon Marie Antoinette » 11.07.2006, 20:15:40

Oh, eine neue Geschichte von dir. Hab mich sehr gefreut :) :)

Ist zwar wieder etwas düster und traurig, aber es gefällt mir sehr gut.
Hoffentlich kommen noch viele Teile :) Armand gefällt mir als Name übrigens viel besser als Athos...

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Beitragvon Sisi Silberträne » 18.07.2006, 20:16:54

Danke für die Blumen *g* Hm, es wird sicher noch viel düsterer...


Kapitel 2


Ich sollte recht behalten. Das Leben ging zwar weiter, für uns alle, doch für mich änderte es sich fast schlagartig. Wenn Papa mich nur weiterhin einfach nicht beachtet hätte. Aber jetzt hasste er mich nur noch. Seiner Ansicht nach war ich dafür verantwortlich, dass er niemals den ersehnten Sohn haben würde, der eines Tages das Weingut erben sollte. Vermutlich hatte er recht. Mein kleiner Bruder war tot, weil Mama durch mich krank geworden war.

Der Winter kam und ging. Als sich auch der Sommer dem Ende zuneigte, brach die Zeit der Weinlese an. Für mich bedeutete dies etwas Ruhe, weil Papa über die Tage in den Gärten zu tun hatte. Etienne und Pascal halfen ihm dabei. Früher hatte ich gerne immer wieder ein paar von den süßen dunkelroten Trauben stibitzt, sie schmeckten einfach zu gut. Nachdem Papa mich in diesem Jahr allerdings dabei erwischte und ich mir Schläge einfing, wagte ich das später nicht mehr.
Nach der Arbeit, wenn der heurige Wein in den großen Fässern im Keller lagerte, wurde gefeiert. Zu diesen Festen waren meist alle besseren Familien des Städtchens eingeladen. Und natürlich die anderen Weinbauern der Umgebung, damit sie untereinander angeben konnten, die allerbesten Trauben geerntet zu haben. Ich verstand solche Dinge noch nicht, und hatte keine Ahnung davon, wie sehr Papa es auf einen bestimmten Weingarten abgesehen hatte. Zum Glück ahnte ich nicht, welche Rolle ich dabei noch spielen sollte.

Während sich die vielen großen Leute glänzend amüsierten, stand ich nur in einer Ecke unserer großen Terrasse herum und sah zu. Auf diese Weise konnte ich nichts falsch machen. Schließlich wollte ich nicht, dass Papa wieder wütend wurde. Ich langweilte mich entsetzlich, meine einzige Gesellschaft war Cloé, meine Lieblingspuppe, die ich die ganze Zeit über festhielt. Nachdem Papa sie für Tage weggesperrt hatte, war sie nun endlich wieder bei mir. Das war das Schlimmste, was er mir antun konnte. Cloé war mein einziger Trost, wenn er mich schlug, oder einschloss. Diese Art der Bestrafung war ich mittlerweile gewöhnt, und ich wusste sie zu überstehen.

Ich sah auf, als sich ein Junge mir näherte. Er mochte ein paar Jahre älter sein als ich, bestimmt schon über zehn, und war somit ein ganzes Stück größer. Sein Gesichtsausdruck behagte mir nicht, dennoch grüßte ich ihn höflich.
„Eine schöne Puppe hast du da. Lass doch mal sehen“, sagte er in einem Tonfall, der mich Cloé noch enger an mich drücken ließ. Damit vermochte ich nicht zu verhindern, dass er sie mir aus der Hand riss.
Spöttelnd lief er quer durch den Garten davon. „Komm und hol dir dein Püppchen, wenn du kannst!“
Natürlich folgte ich ihm, rief dabei immer wieder Cloés Namen. Weil er viel längere Beine hatte, schaffte ich es nicht ihn einzuholen. Erst als er wieder auf der Terrasse angelangt war, und im Zickzack an den Erwachsenen vorbei rannte, hatte ich überhaupt eine Chance. Und dann kam es, wie es kommen musste. Eine ältere Dame machte einen Schritt zur Seite, dem der Junge nicht mehr ausweichen konnte. Er lief ihr direkt in den Arm, sodass sie ihr Glas fallen ließ, und er selbst stolperte. Weil ich auch nicht mehr anhalten konnte, landeten wir gemeinsam in einem heillosen Durcheinander auf dem Boden.
„Gib mir meine Cloé wieder!“ fauchte ich ihn wütend an, ehe er sich aufrappeln konnte. Scheinbar hatte er überhaupt kein Interesse mehr an meiner Puppe, sodass ich sie selig wieder an mich drücken konnte. Erst als ich das Keifen der Dame hörte, und die Blicke der umstehenden Leute sah, wurde mir klar, warum der Junge so schnell hatte verschwinden wollen. Es war ihm jedoch nicht gelungen, seine Eltern nahmen ihn im Empfang. Ich bekam gerade noch mit, dass er Raymond hieß. Ein Name, den ich nicht zum letzten Mal gehört haben sollte.

Und dann stand Papa plötzlich vor mir. Die Ader auf seiner Stirn pulsierte gefährlich. Er sagte kein Wort, zerrte mich nur ins Haus hinein, wo die Festgäste nichts mitbekommen würden. Wahrscheinlich wäre es ihnen sowieso egal gewesen, ich war ja nur ein dummes ungehorsames Kind.
„Papa, bitte nimm mir Cloé nicht weg! Nimm sie mir nicht weg...“, flehte ich ihn verzweifelt an, doch es nützte nichts. Nachdem er meine Puppe im Schrank eingesperrt hatte, setzte es für mich Prügel. Zitternd vor Angst musste ich alles über mich ergehen lassen. Er stieß mich, trat mich und beschimpfte mich.
„Du dummes Kind! Dass du einen nur blamieren kannst!“, schrie er mich an. „Schämen muss ich mich für dich.“
Ich flehte ihn an, aufzuhören. „Bitte Papa, tu mir nicht weh! Es war doch nicht meine Schuld...“ Es hatte keinen Sinn. Dass das nur passiert war, weil mir Raymond meine Puppe weggenommen hatte, interessierte ihn nicht.
Als er endlich aufhörte auf mich einzuschlagen, war ich benommen vor Schmerz. Aus eigener Kraft konnte nicht mehr auf mein Zimmer gehen, weswegen er mich dann dorthin zerrte, und mich einfach auf dem Boden liegen ließ. Ich hasste ihn dafür, ich hasste auch diesen Jungen, aber am meisten hasste ich mich selbst.

Später kam Mama, um meine Verletzungen zu versorgen und mir etwas zu essen zu bringen. Ich fragte mich immerzu, warum sie Papa nicht davon abhielt, mir weh zu tun. Dass sie so erzogen worden war, Männern bedingungslose Gefügigkeit entgegen zu bringen, begriff ich damals nicht. Das Gleiche wollte Papa bei mir erreichen, indem er meine Angst benutzte, um mich zum Gehorsam zu zwingen.
Es war nicht das einzige Mal, dass er mich so verprügelte. Meine körperlichen Wunden heilten meist schon nach ein paar Tagen wieder, aber die Narben in meiner Seele würden niemals ganz verschwinden. In diesen Jahren lernte ich meinen eigenen Vater mehr zu fürchten, als Tod und Teufel. Mit der Zeit gelangte ich jedoch zu einer Erkenntnis, die mir half meine von Gewalt gezeichnete Kindheit zu ertragen. Was mich nicht umbrachte, das machte mich stark.

Mit etwa zwölf oder dreizehn begann sich mein Körper zu verändern. Vom Mädchen wurde ich zur Frau. Sonst blieb aber alles beim Alten. Ich sehnte den Tag herbei, an dem ich endlich aus meinem Elternhaus entfliehen konnte, und Papa hoffentlich nie wieder zu sehen brauchte. Vor mir selbst legte ich einen Schwur ab. Wenn ich einmal Mutter war und eine Tochter hatte, würde ich niemals zulassen, dass ihr so etwas widerfuhr.
Was ich nicht wusste, war dass Papa bereits Ausschau nach der für ihn vorteilhaftesten Möglichkeit hielt, mich an den Mann zu bringen. Während er sich von meiner Heirat Gewinn erhoffte, machte ich meine ersten eigenen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Ich lernte Michel auf dem Heimweg vom Markt kennen. Er war der Sohn des Bäckers und von einfacher Abstammung.

Leises Flötenspiel erweckte meine Aufmerksamkeit. Es mischte sich mit dem Singen der vielen Vögel, die rund um den nahen Weiher lebten. Die Sonne verriet mir, dass ich noch etwas Zeit hatte, bis ich zuhause sein musste, und so versuchte ich die Quelle der schönen Musik zu finden. Direkt am Wasser entdeckte ich schließlich einen Jungen, der in etwa so alt sein mochte wie ich selbst. Er spielte auf einer holzgeschnitzten Flöte. Als er mich bemerkte, hielt er inne.
„Hör doch nicht auf. Das klingt wunderbar“, bat ich ihn.
Er lächelte mich an. „Vielen Dank. Bestimmt würde es noch besser klingen, wenn die richtige Stimme dazu sänge.“
Mich hatte noch nicht oft jemand so ehrlich angelächelt. Ehe ich mich versah, sang ich zu seinem Flötenspiel sämtliche Kinderlieder, an die ich mich von früher erinnerte. Als ich noch klein war, hatte Mama mich abends mit diesen Melodien zum Einschlafen gebracht.
„Du hast eine schöne Stimme“, lobte mich der Junge gut gelaunt. „Leider muss ich jetzt nach Hause gehen, aber wir könnten uns ja morgen wieder hier treffen und zusammen singen.“
Ich erschrak bei diesen Worten zu Tode. Über den Spaß, den ich gehabt hatte, war mir die Zeit völlig entglitten, und ich hätte schon lange daheim sein müssen. So schnell ich konnte, rannte ich die Wege entlang, die zu unserem Weingut führten. Natürlich kam ich viel zu spät und Papa war sehr böse mit mir. Am nächsten Tag konnte ich darum Michel nicht wieder sehen. Mit geschwollenem Gesicht lag ich auf meinem Bett und dachte an ihn, sein wunderbares Flötenspiel, sowie die Freude, die ich in seiner Gegenwart empfunden hatte.
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Beitragvon pearl » 18.07.2006, 21:04:11

wunderschön..und so traurig *träne wegwisch*

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Beitragvon Marie Antoinette » 19.07.2006, 19:26:13

Endlich eine Fortsetzung! Gefällt mir wieder sehr! :) :) :)

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Beitragvon pearl » 07.09.2006, 16:35:05

wann gibt es eine fortsetzung? bitte bald! :wink:

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Beitragvon Marie Antoinette » 07.09.2006, 18:53:20

Würd auch gern wieder mal einen Teil lesen! *anfeuer* :lol:

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Beitragvon Sisi Silberträne » 16.09.2006, 01:10:44

Danke für eure Kommentare =) hier ist nun endlich Kapitel 3. Bei solchen Geschichten dauern die kreativen Tiefs immer irgendwie viel zu lange -.-


Kapitel 3


Einmal mehr war ich unglaublich dankbar für die Zeit der Weinlese, die dem fünfzehnten Sommer meines Lebens folgte. Papa war beschäftigt, und das wusste ich zu nutzen. Er merkte es nicht, wenn ich mich davon schlich, um die Tage mit Michel zu verbringen. Mit meinem besten Freund hatte ich jede Menge Spaß, in seiner Gegenwart fühlte ich mich frei. Er brachte mir in dem Weiher, der unser Treffpunkt war, das Schwimmen bei, und zu seinem Flötenspiel lernte ich viele neue Lieder.
Als dann das große Fest ins Haus stand, war Papa der Meinung, dass ich ein neues Kleid brauchte. Kein ganz normales, sondern ein besonders hübsches und teures. Ich war darüber sehr verwundert, er hatte noch nie mehr Geld als unbedingt nötig für mich ausgegeben. Das Aussuchen des Stoffs und selbst das Anpassen beim Schneider zusammen mit Mama machte mir großen Spaß. Ich genoss es auch einmal etwas Schönes zu bekommen.

Später erzählte ich aufgeregt Michel davon, und beschrieb ihm in allen Details den Stoff, und den Schnitt, den das Kleid haben sollte. Er hörte zu, obwohl er als Junge sicher nicht sehr viel mit einem solchen Thema anzufangen wusste.
„Weißt du was ich seltsam finde?“ fragte ich ihn schließlich.
Er grinste. „Nein, aber du wirst es mir sicher gleich sagen.“
Da hatte er natürlich recht. „Die älteren Jungen im Dorf sehen mich in letzter Zeit irgendwie ganz komisch an. Aber im Grunde ist das gar kein schlechtes Gefühl. Ich verstehe nur nicht wieso sie es tun...“
Michel schien mein Unverständnis zu amüsieren, er lachte. „Weil du wunderhübsch bist, du Dummerl.“
Eigenartigerweise störte mich diese Bezeichnung aus seinem Munde nicht. Schließlich wusste ich, dass er es nicht so meinte wie Papa, wenn er Ähnliches zu mir sagte. Ich ließ mich von ihm ans Ufer des Weihers ziehen. Unsere Gesichter spiegelten sich auf der glatten Wasseroberfläche.
„Siehst du dich nie selber im Spiegel an?“ fragte er, während er mich von der Seite her betrachtete.
„Doch schon...“ Ich hielt inne. Natürlich wusste ich wie ich aussah. Es hatte mir nur nie jemand wirklich das Gefühl gegeben, dass ich schön war. Durch Michels Augen erkannte ich das nun zum ersten Mal. Ich hatte rotes Haar, das mir glatt und seidig über die Schultern fiel, tiefgrüne Augen und helle, fast weiße Haut.

Bei meinem nächsten Gang in die Stadt genoss ich die Blicke der jungen Männer ganz bewusst. Ich hätte mich aber nie getraut einen von ihnen anzusprechen. Inzwischen hatte der Schneider mein Kleid fertig, sodass ich es abholen konnte. Es war noch schöner als ich es mir vorgestellt hatte. Der Schnitt war schlicht, doch er betonte meine Figur sehr. Am besten gefiel mir der fliederne Farbton. Ich konnte es kaum erwarten Michel das Kleid zu zeigen. Zum Glück traf ich ihn auch an diesem Tag mit seiner Flöte beim Weiher an.
Irgendwie schaffte er es mich dazu zu überreden, es anzuziehen, damit er sehen konnte, wie es mir stand. Ich drehte mich vor seinem kritischen Blick und wartete auf seinen Kommentar.
Lächelnd streckte er beide Daumen nach oben. „Hinreißend schaust du aus. Bestimmt bist du auf dem Fest das hübscheste Mädchen.“
Diese Bemerkung gab mir dann doch etwas zu denken. Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt, jedoch verstand ich nicht, weshalb Papa offenbar plötzlich wollte, dass ich auffiel. Für gewöhnlich war es ihm am liebsten, wenn ich keinen Mucks von mir gab.

Als ich mich von ihm in dem neuen Kleid begutachten ließ, musste ich unwillkürlich schaudern. Er schien jedoch zufrieden und befahl mir, mein Haar bei dem Fest aufgesteckt zu tragen. Lieber hätte ich es offen gelassen.
Dann war es so weit. Voller Vorfreude sah ich dem Abend entgegen, während Mama mir dabei half mich zurecht zu machen. Dass es so ein Unterschied war, auf einmal nicht mehr ein stiller Beobachter, sondern mittendrin zu sein, hätte ich nie gedacht. Teils genoss ich die Aufmerksamkeit, die man mir entgegen brachte, teils war sie mir unangenehm.
Nach einer Weile, als das Fest in vollem Gange war, kam Papa mit einem jungen Mann auf mich zu. Offenbar wollte er, dass ich Zeit mit seinem Begleiter, den er mir als Raymond d’Arlais vorstellte, verbrachte. Noch war ich viel zu naiv um den Grund dafür zu erkennen.

Beim Tanz hatte ich mehr Gelegenheit als mir lieb war, Raymond aus der Nähe zu betrachten. Er mochte an die zwanzig Jahre alt sein, und war mit seinem dunkelblonden Lockenkopf und den lebhaften nussbraunen Augen auch durchaus gut aussehend. Sein ganzes Auftreten ließ darauf schließen, dass er aus einer ähnlich wohl situierten Familie wie ich stammte.
Nach einer Weile hatte er zum Glück genug. Er zog mich fort vom Geschehen des Festes. Wohl oder übel musste ich ihm folgen und dabei ein halbwegs zufriedenes Gesicht machen.
„Ihr seid eine gute Tänzerin, Anne“, lobte er mich lächelnd.
Ich versuchte bei dieser nur allzu offensichtlichen Schleimerei nicht das Gesicht zu verziehen, die Wahrheit war, dass ich auf der Tanzfläche ähnlich unbeholfen war, wie ein Albatross auf dem Boden.
„Vielen Dank, Monsieur d’Arlais“, sagte ich dennoch höflich. Seinen Namen betonte ich besonders, um ihn darauf hinzuweisen, dass ich ihm nie erlaubt hatte, mich beim Vornamen zu nennen. Seine Vertrautheit behagte mir nicht.
Er lächelte. „Aber warum so distanziert, meine Liebe? Bitte, nennt mich doch Raymond.“ Als er mir mit dem Handrücken über die Wange strich, war ich erst wie versteinert. „Ihr seid wunderschön, hat Euch das schon jemand gesagt?“
Die Worte holten mich aus der Starre und ich schob seine Hand nachdrücklich weg. „Mäßigt Euch, Monsieur!“
„Wie Ihr wollt, Anne. Aufgeschoben ist in diesem Fall ja keineswegs aufgehoben. Ich kann warten.“
„Bitte?“ Verblüfft hielt ich inne. „Für wen haltet Ihr Euch eigentlich? Ich bin nicht Eure Frau! Adieu, Monsieur d’Arlais!“ Ohne eines weiteren Wortes wandte ich mich ab, um zu den anderen Festgästen zurück zu kehren. Ein paar weitere Schläge von Papa würde ich überstehen, wie ich es ja immer tat.

Kaum war ich in Sichtweite der Terrasse, eilte Mama auf mich zu. Ihren Gesichtsausdruck wusste ich nicht zu deuten, es war eine Mischung aus Aufregung, Freude und Besorgnis.
„Anne, Chérie, da bist du ja! Komm mit, dein Vater wartet schon auf dich.“ Sie scheuchte mich in Richtung der Steinplattform, über die man ins Haus gelangte. Dort oben, und damit eine Stufe höher als die anderen Anwesenden, stand Papa. Offenbar wollte er etwas sagen. Erst als ich neben ihm stand, merkte ich, dass Raymond auf die andere Seite getreten war. Was wollte er hier nur?
Ich hatte jedoch keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Papa klopfte ein paar Mal mit einem Löffel auf sein Glas, um Aufmerksamkeit zu erregen. Als er alle Blicke auf sich hatte, legte er beides zur Seite.
„Liebe Gäste, ich bin glücklich heute ein erfreuliches Ereignis bekannt geben zu dürfen.“ Sein Blick fiel auf mich, und dann auf den jungen Mann. „Die Verlobung meiner Tochter Anne mit Raymond, dem ältesten Sohn meines guten Freundes Pierre d’Arlais.“
Ehe ich reagieren konnte, legte er meine Hand in die Raymonds. Alle umstehenden Menschen begannen zu jubeln und zu klatschen. Es war mir allerdings überhaupt nicht klar, wieso sie das taten. Die Bedeutung von Papas Worten begriff ich in diesem Moment nicht. Sicher hatte ich ihn deutlich gehört, jedoch weigerte ich mich schlicht die Aussage anzuerkennen.

Den Rest der Feierlichkeit erlebte ich nur wie durch einen Nebelschleier. Hier und dort wurden mir Glückwünsche entgegen gebracht, die ich mit äußerst knapp ausfallendem Dank beantwortete. Am liebsten wäre ich jetzt allein gewesen, doch es war dauernd jemand um mich, sodass ich keine Gelegenheit hatte, mich davon zu stehlen.
Zumindest erkannte ich nun, warum Papa auf einmal wollte, dass ich auffiel. Das neue Kleid, passender Schmuck. Ich sollte schön aussehen für den Mann, an den er mich bringen wollte. Plötzlich fühlte ich mich unter all den bewundernden Blicken gar nicht mehr wohl, sondern kam mir vor wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. Zum Glück wusste ich noch nicht, wie recht ich mit diesem Vergleich hatte.
Zuletzt geändert von Sisi Silberträne am 13.11.2006, 19:15:51, insgesamt 1-mal geändert.
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Kitti
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Beitragvon Kitti » 16.09.2006, 12:19:11

Wow, das ist wieder mal super geworden. Weiter so! :)

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TigerKoko

Beitragvon TigerKoko » 16.09.2006, 14:35:26

finde ich auch, klasse !!! :D

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Sisi Silberträne
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Beitragvon Sisi Silberträne » 23.11.2006, 19:32:21

Danke euch! =) Lang hats dauert, aber hier ist endlich das nächste Kap.


Kapitel 4


Erst zwei oder drei Stunden später war das Fest offiziell zu Ende, die Gäste machten sich nach und nach auf den Heimweg. Papa war damit beschäftigt sie alle zu verabschieden, besonders mit den Messieurs d’Arlais unterhielt er sich ausgiebig. Mir konnte das nur recht sein, es gab mir Gelegenheit, mich endlich zurück zu ziehen. Ich wollte nur noch ins Bett.
Im Badezimmer zog ich mir eine Klammer nach der anderen aus dem Haar, bis es mir wieder offen über die Schultern fiel, entkleidete mich und schlüpfte in mein Nachthemd. Das schöne fliederfarbene Gewand fand ich auf einmal überhaupt nicht mehr so reizvoll.

Ein leises Klopfen an der Tür holte mich aus meinen Gedanken. Mamas Stimme bat um Einlass. Mit einem lautlosen Seufzen drehte ich den Schlüssel im Schloss herum, sodass sie den Raum betreten konnte.
„Anne, Chérie“, sagte sie. „Wie geht es dir?“
Ich wusste nicht was ich ihr antworten sollte. Im Moment erschien mir die ganze Situation absurd wie die meisten Träume, an die ich mich nach dem Aufwachen noch erinnern konnte. Mama trat hinter mich, nahm mir die Bürste aus der Hand und begann liebevoll mein Haar zu frisieren, ganz so wie sie es getan hatte, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war.
„Das geht alles zu schnell für dich, es tut mir so leid. Ich habe versucht mit deinem Vater darüber zu reden, aber du weißt ja selber wie er ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat“, fuhr sie fort, während ich weiterhin schwieg. „Versuch einfach das Beste daraus zu machen, dann erscheint es dir bestimmt nicht mehr ganz so schlimm. Und die Ehe hat auch sehr schöne Seiten, das wirst du merken, wenn du dein erstes Kind in den Armen hältst.“
Diese Worte waren zweifellos gut gemeint, doch sie heiterten mich nicht sonderlich auf. Wie konnte es schließlich erstrebenswert sein, Tag und Nacht mit einem Mann zusammen zu leben, den ich nicht mochte? Einmal hatte Mama zu mir gesagt, man könne lernen jemanden zu lieben. Ich glaubte es nicht. Papa hatte diesen Mann nach seinen Vorstellungen ausgesucht, und darin hatte ich noch nie einen Platz gehabt.
Mama drehte mich zu sich herum und drückte mich für einen Moment zärtlich an sich. „Schlaf eine Nacht darüber. Wir reden morgen weiter, wenn du willst.“

Dankbar dafür, dass sie mein Schweigen verstand und nicht verärgert war, wandte ich der großen mit Wasser gefüllten Schale vor mir zu. Es war schon lange kalt, aber ich wollte das Dienstmädchen jetzt nicht mehr darum bitten, neues einzufüllen. Schließlich ging es auch so.
Gerade suchte ich nach einem Handtuch, als die Tür abrupt aufgerissen wurde und Papas wutverzerrtes Gesicht im Rahmen auftauchte. Ich erschrak, offenbar hatte ich vergessen abzuschließen, nachdem Mama den Raum verlassen hatte.

„Wie kannst du es nur wagen, mich so zu blamieren“, keuchte er. „Du hast Raymond d’Arlais nicht umsonst eine Abfuhr erteilt!“
Bevor ich auch nur irgendwie zu reagieren vermochte, flog ich gegen den Tisch mit der Schüssel. Etwas knackte scheußlich in meiner Schulter, der Schmerz ließ mich aufstöhnen. Das Möbelstück hielt meinem Gewicht stand, und es gelang mir nach der Schale zu greifen, ehe sie hinunter glitt und unweigerlich auf dem Boden zerschellte. Das Überschwappen des Wassers konnte ich jedoch nicht verhindern.
Papas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Dummes Ding, kannst du nicht aufpassen!“ Erneut schlug er nach mir. Als er mit seinen Stiefeln in die Wasserlacke auf dem Boden trat, kam es wie es kommen musste, er rutschte aus. Mit einem Fluch fing er den Sturz ab, war fast sofort wieder auf den Beinen. Den Moment der Unaufmerksamkeit versuchte ich zu nutzen, um hinaus zu rennen, doch an ihm vorbei schaffte ich es nicht, er ergriff mich am Arm, riss mich grob zurück.
„Ich werde Raymond niemals heiraten! Nie!“ hörte ich auf einmal mich selbst schreien. Dass ich ihn damit nur noch mehr aufregte, war mir egal. Zum ersten Mal schaffte ich es ihm wirklich zu widersprechen, und trotz dem was folgte, war es ein sehr gutes Gefühl.

Als ich später endlich in meinem Bett lag, konnte ich mich kaum rühren, ohne dass eine Welle der Pein meinen Körper durchflutete. Aber ob es das auch wert gewesen war? Er hatte endlich erkannt, dass ich keines seiner Pferde war, die er einfach brechen konnte, auch wenn er es immer wieder versuchte. Als Strafe für meinen Widerstand hatte er mich mit dem breiten Lederriemen verprügelt, der eigentlich zum Messer schleifen gedacht war.
Die Striemen auf meinem Rücken brannten auch am nächsten Morgen noch furchtbar. Ich war wie gerädert, hatte kaum Schlaf gefunden. Meine Tür stand einen Spalt breit offen und ich konnte die Geräusche des Familienfrühstücks aus der Stube hören. Zwar knurrte mir der Magen, doch Papa wollte ich auf keinen Fall unter die Augen treten. So schloss ich lediglich die Tür und ging wieder ins Bett.

Ich wusste nicht, ob eine oder drei Stunden vergangen waren, als irgendwann jemand herein kam. Es war nicht Papa, um das zu erkennen, brauchte ich nicht einmal aufzusehen.
„Anne, schläfst du?“ fragte Etienne leise, während er sich dem Bett näherte. Ein wohltuender Duft stieg mir in die Nase, veranlasste mich dazu, mich aufzurichten. Er hatte mir Frühstück mitgebracht. Auf dem Teller waren ein Buttercroissant, sowie etwas Käse und Obst. Dankbar biss ich in das Gebäck.
„Effienne, du biff ein Faff“, murmelte ich kauend. Beim Geschmack des Essens spürte ich schlagartig wieder wie hungrig ich eigentlich war.
Mein Bruder musste lachen. „Vergiss nicht aufs Schlucken, sonst verstehe ich kein Wort.“
„Ich sagte du bist ein Schatz“, wiederholte ich kichernd. Einen Augenblick später verzog ich allerdings das Gesicht, weil ich äußerst schmerzhaft an die Begegnung mit dem Schleifriemen erinnert wurde.
„Stimmt etwas nicht?“ Etienne sah mich prüfend an. Er gab nicht nach, bis ich ihm erzählt hatte, was vorgefallen war. Damit war die gute Stimmung dahin.

Als ich mit dem Essen fertig war, versorgte Etienne die Striemen auf meinem Rücken. Es brannte heftig, doch ich versuchte still zu halten. Wenn er der Meinung war es half, vertraute ich ihm.
Er seufzte leise. „Ich verstehe zwar nicht, warum Papa immer so gemein zu dir ist, aber du hättest ihm nicht widersprechen sollen.“
„Wieso nicht?“ fragte ich schlicht. „Was gibt ihm das Recht über mein Leben zu bestimmen?“
„Die Tatsache, dass er dein Vater ist. Frauen müssen ihren Männern gehorchen und Töchter ihren Vätern. So ist das eben, so war es schon immer.“
Das konnte ich nicht verstehen. Mir fiel kein Grund ein, der ein Mädchen weniger wertvoll machte als einen Jungen. Beide hatten doch ihre Vorzüge, oder etwa nicht?
„Etienne? Würdest du denn deine Frau oder deine Tochter jemals schlagen?“
Darauf erwiderte er nichts, und dieses Mal verzichtete ich darauf weiter zu bohren. Vielleicht würde er mir meine Frage zu einem anderen Zeitpunkt beantworten. Wir sprachen jedoch über viele andere Dinge, er gestand mir sogar, dass er sich verliebt hatte und über die Ehe nachdachte. Pascal, der ältere meiner Brüder war schon seit einem Jahr verheiratet.

Nach ein paar Tagen ging es mir auch dieses Mal wieder gut. Bei der nächsten Gelegenheit versuchte ich am Weiher Michel zu treffen, doch er war nie dort. Zum Glück wurde ich oft genug ins Dorf geschickt, meistens am Markttag. In der Bäckerei seiner Eltern konnte ich kurz mit ihm sprechen. Sein Vater war krank, deswegen musste er jeden Tag helfen. Für eine längere Unterhaltung reichte weder Zeit, noch war dies der passende Ort. Michel war der einzige, mit dem ich über alles reden konnte. Auch über Politik hatten wir schon gesprochen. Ich fand es durchaus interessant, was im Land so vorging. Leider erfuhr ich außer durch meinen besten Freund nichts davon, denn Frauen hatten sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.

Der nahende Winter schüttelte nach und nach die letzten goldbraun verfärbten Blätter von den Bäumen. Kahl standen sie da, bis eine dicke weiße Schneedecke Äste, Wiesen, Weingärten und Häuser bedeckte. Einzig die schwarz gefiederten Leiber der Krähen, die auf den Feldern nach Nahrung pickten, bildeten einen scharfen Kontrast. Obwohl ich ein Kind des Sommers war, liebte ich Winter und Schnee. Oder vielleicht gerade deswegen. Gerne wäre ich den ganzen Tag im Freien geblieben, um ausgedehnte Streifzüge durch die in der Sonne wie in Zauberlicht gehüllte Landschaft zu unternehmen.
Die Stimmung daheim war gedrückter als sonst. Zu dieser Jahreszeit hatte Papa nichts mit dem Weinbau zu tun und langweilte sich. Mamas Lächeln wurde dann auch immer seltener. Um Papa keinen Anlass zu geben böse mit mir zu sein, war ich stets pünktlich zu Hause. Doch er fand immer etwas, und waren es nur eine Hand voll in der Küche gesammelter Essensreste, die ich an die Krähen verfütterte.
Mit der Zeit begann ich mich zu fragen, ob die Ehe wirklich eine so schlechte Wahl war. Immerhin wäre ich dann endlich fort aus meinem Elternhaus und damit außerhalb von Papas Reichweite. Allerdings wusste ich noch immer nicht was ich von Raymond halten sollte. Wir waren uns erst einmal begegnet und im Grunde kannte ich ihn nicht. Vielleicht täuschte der erste Eindruck ja.
Zuletzt geändert von Sisi Silberträne am 27.12.2006, 18:32:30, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon Marie Antoinette » 23.11.2006, 19:53:28

Schön, dass es mir der Geschichte auch wieder weitergeht!

Der Teil gefällt mir sehr gut! :D

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Beitragvon Kitti » 23.11.2006, 22:16:23

Auch an dieser Stelle, gefällt mir richtig gut! Weiter so! :D
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Beitragvon Sisi Silberträne » 26.01.2007, 16:07:15

Danke euch zwei :)


Kapitel 5


Als sich die kalte Jahreszeit dem Ende neigte, bekam ich Gelegenheit meine Ansicht von dem jungen Mann, dem ich versprochen war, von Grund auf zu revidieren. Eines Morgens beim gemeinsamen Frühstück in der holzgetäfelten Stube bedachte Papa mich mit einem langen prüfenden Blick.
„Mach dich heute Abend hübsch, die Messieurs d’Arlais kommen zum Essen“, ordnete er an.
Ich nickte nur. Inzwischen hatte ich endgültig beschlossen Raymond eine Chance zu geben. Vielleicht behielt Mama am Ende doch recht und ich konnte lernen ihn zu lieben. Die Zeit selbst würde die Antwort geben.

Etienne und ich saßen auf dem hellbraunen Kuhfell vor dem Kamin, während wir auf die Ankunft von Papas Freund und dessen Sohn warteten. Das Geräusch von Pferdehufen vor dem Haus sagte uns schließlich, dass die Gäste angekommen waren und wir gingen gemeinsam in den Vorraum, um sie zu begrüßen.
Ich hielt mich Raymond gegenüber an meinen Vorsatz. Beim Dîner erlebte ich ihn als höflich und wohlerzogen, jedoch das Dienstmädchen behandelte er äußerst herablassend. Mein Freund Michel hatte mir einmal geraten, wenn ich wissen wollte, welch ein Mensch jemand war, darauf zu achten, wie er mit Untergebenen umging. Auf diese Weise erfuhr ich einiges von meinem Gegenüber.

Nach dem Essen bat Raymond mich zum Spaziergang draußen. Obwohl er mich höflich fragte, zeigte mir Papas Blick auf, dass ich keine Wahl hatte. Ich hakte mich bei dem jungen Mann ein, ließ mich von ihm ins Freie geleiten. Sobald wir allein waren, befreite ich meinen Arm schnell wieder.
Raymond hob sichtlich amüsiert die Augenbraue. „Immer noch so zickig? Jetzt stell dich doch nicht so an, ich bin nicht giftig.“
Wer weiß, dachte ich bei mir, hielt jedoch den Mund. Seine plötzliche Vertrautheit in der Anrede widerstrebte mir. Für eine Weile sagte keiner etwas. Ich kam zu dem Schluss, dass ich die direkte Konfrontation suchen musste, wenn ich einen Eindruck davon bekommen wollte, wer dieser Mann eigentlich war.

„Der Winter ist heuer hart“, begann er unvermittelt. „Ich mag diese Jahreszeit nicht, es ist viel zu kalt.“
„Ich schon. Die Landschaft ist wundervoll, wenn sie von frisch gefallenem Schnee bedeckt ist.“
Sein irritierter Blick verriet mir, dass er mit einer solchen Antwort nicht im Mindesten hatte. Ich verkniff mir ein Grinsen.
„Dein Vater erwähnte, du wärst im Sommer geboren. Seltsame Einstellung für ein Kind der warmen Jahreszeit. Ich kam im Frühling zur Welt.“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Es war Spätsommer um genau zu sein. Und von meiner Mutter weiß ich, dass der Winter in diesem Jahr früh kam. Vielleicht hängt es ja damit zusammen.“
„Na ja, nicht so wichtig... Das Dîner war gut, oder?“ Als ich nicht reagierte, sah er mich von der Seite her an. „He, ich rede mit dir?“
„Über solche Belanglosigkeiten wie das Wetter oder das Abendessen zu sprechen, langweilt mich ein wenig, wenn ich ehrlich sein darf...“
Ein undeutbares Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ach so ist das. Dann möge Mademoiselle ein Thema beginnen.“
Erneut musste ich ein Kichern unterdrücken. Genau darauf hatte ich hinaus gewollt. Das war leicht gewesen. „Hm... du könntest mir zum Beispiel davon erzählen, was du von den letzten Erlässen unseres Königs hältst?“
Verblüfft sah er mich an. „Bitte was? Du solltest deinen hübschen Kopf nicht mit Dingen voll stopfen, die zu hoch für ihn sind. Politik ist für eine Frau genauso unnütz wie lesen und schreiben.“
„Ich kann lesen und schreiben!“ zischte ich mit zusammen gebissenen Zähnen. Pascal und Etienne hatten es mich hinter Papas Rücken gelehrt, weil Mama es sich gewünscht hatte. Sie bedauerte oft es selbst nicht zu können.
Raymonds Augenbrauen zogen sich zusammen. Er grinste jetzt nicht mehr so unsagbar arrogant und überlegen. „Wenn du erst einmal meine Frau bist, ist sofort Schluss mit solchem Unsinn! Dafür wirst du sowieso keine Zeit haben, schließlich musst du dich dann um unsere Kinder kümmern.“ Er sah mich prüfend an. „Du wirst gesunde Söhne auf die Welt bringen.“

Das war alles wofür ich in seinen Augen zu gebrauchen war. Eine Zuchtstute, die nur ihren Wert hatte, solange sie erstklassige Fohlen werfen konnte. Damit hatte er mir deutlich gemacht, was mich in einer Ehe mit ihm erwartete. Und ich wusste jetzt, dass ich niemals lernen würde diesen Mann zu lieben. Für ihn war mein einziger Zweck ihm Gehorsam zu leisten. Er war wie mein Vater.
„Oder Töchter“, stieß ich bitter hervor.
„Nun, passieren kann das....“ Er blieb stehen, hielt mich dabei am Arm zurück. Seine Finger strichen über mein langes Haar. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr es mich anwiderte von ihm berührt zu werden. „Du hast eine ganz außergewöhnliche Haarfarbe.“
„Mir ist kalt, ich möchte wieder hinein gehen.“ Zugegeben, es gab viele Orte, an denen ich mich lieber aufgehalten hätte, als in der Stube, wo Papa war. Doch allein mit Raymond hier draußen bleiben wollte ich noch weniger.
„Fast wäre ich ja geneigt zu glauben du magst mich nicht. Zu schade. Aber das ändert nichts daran, dass du mir versprochen bist. Du wirst dich an den Gedanken gewöhnen müssen.“
Ich schwieg beharrlich. Dass ich mich hartnäckig wegdrehte, als er versuchte mich zu küssen, ließ ihn amüsiert auflachen. „Ach schau an, wir haben hier einen richtigen Wildfang, der erst noch gezähmt werden will.“
„Für was hältst du dich eigentlich?“ rief ich plötzlich voller Wut aus. „Ich bin ein Mensch wie du und kein Pferd, das du besitzen und über das du bestimmen kannst, wie es dir beliebt!“
Er packte mich daraufhin grob am Kinn, zwang mich ihn anzusehen, „Du kleine... Dir treibe deinen Widerwillen schon noch aus. Ich erwarte Gehorsam von meiner Frau, schreib dir das hinter die Ohren, Anne!“

Nun ließ er mich zumindest in Ruhe, sah mich nicht einmal an. Ich verstand zwar nicht, was er mit seinem und meinem Vater besprach, doch dann streifte mich ein kalter Blick Papas. So lange die Messieurs d’Arlais bei uns weilten, konnte er jedoch nichts weiter machen. Als er die Besucher ausgiebig verabschiedete, nützte ich die Gelegenheit mich oben in meinem Zimmer einzuschließen. Natürlich hatte ich keinen Schlüssel, so verbarrikadierte ich die Tür so gut es ging mit einem Stuhl.
Spätestens als ich Papa die Stufen nach oben poltern hörte, erkannte ich, dass ich den Schlägen auch dieses Mal nicht entgehen würde. Das Holz des Sitzmöbels gab leicht nach. Im selben Moment als ich das Splittern hörte, flog die Tür auf.

Meine Vermählung mit Raymond würde im Frühling stattfinden, eine Woche nach dem einundzwanzigsten Geburtstag meines Bräutigams. Mama versuchte das eine oder andere Mal mir die Ehe doch noch schmackhaft zu machen, indem sie mir von den Freuden der Mutterschaft erzählte und mir versicherte, dass das für alle Opfer entschädigte, die die Ehe abverlangte.
Je näher der Tag rückte, desto weniger vermochten mich ihre Worte zu trösten. Ich hatte das Gefühl trotz meiner fünfzehn Jahre schon das Ende erreicht zu haben. Nicht das meines Lebens, aber das aller Träume, die ich im Herzen trug. Nicht mehr für das bestraft zu werden, was ich war. Jemanden zu finden, der mich bedingungslos liebte, und dem ich mein Herz gerne schenkte.

Nicht einmal einen Monat vor der Hochzeit fasste ich einen Entschluss. Was hatte ich schon zu verlieren? Ich packte ein paar Sachen zusammen, stahl einige Nahrungsmittel aus der Küche. In der Nacht wartete ich in meinem Zimmer bis alle tief und fest schliefen. Als die Kirchenglocke im Dorf dumpf Mitternacht schlug, schlich ich mich hinaus. Einmal knarrte die Treppe laut unter meinen Füßen, doch zum Glück schien es niemand außer mir selbst gehört zu haben. Auf Zehenspitzen tappte ich durch den Vorraum. Die Eingangstür war natürlich versperrt, weswegen ich mich sofort Richtung Küche wandte, um dort durch eines der Fenster zu klettern.
Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich fuhr erschrocken herum, unterdrückte gerade noch einen leisen Aufschrei. Hinter mir stand jedoch nicht Papa, sondern Etienne, der mich verwundert ansah.

„Anne, wo willst du denn um diese Nachtzeit hin?“ flüsterte er ganz leise. Offenbar lag ihm auch nichts daran entdeckt zu werden.
„Ich ähm... Moment, das Gleiche könnte ich dich fragen.“ Ich hoffte, dass er mein Bündel nicht bemerkt hatte, denn wenn doch brauchte er nur zwei und zwei zusammen zu zählen. Im schwachen Mondlicht, das durchs Fenster herein fiel, sah ich, dass er rot wurde.
„Nun ja, also...“ stotterte er. „Meine Freundin besuchen.“
Beinahe musste ich lachen, doch ob des Ernstes meiner Lage verkniff ich es mir. Sein Blick war auf meine zusammen gepackten Habseligkeiten gefallen und er begriff was ich zu tun beabsichtigte.
„Du willst weglaufen, oder?“
Ich nickte leicht. „Ich kann Raymond nicht heiraten, lieber würde ich sterben...“ Natürlich erwartete ich nicht, dass er das verstand, er war ein Mann. Einer, den mein Vater groß gezogen hatte. „Bitte verrat mich nicht, Etienne.“
Er legte seine Hand auf meine. „Das werde ich nicht, kleine Schwester. Komm mit, bevor uns doch noch jemand hört.“
Wortlos folgte ich ihm durchs Fenster hinaus ins Freie. Er holte rasch sein Pferd aus dem Stall und nahm mich bis zum Dorf mit, weil er nicht wollte, dass ich allein durch den nächtlichen Wald irrte.

Als die ersten schattenhaften Häuser zu erkennen waren, setzte er mich ab. Er drückte mich kurz an sich. „Viel Glück, Anne. Pass bloß auf dich auf. Vor allem, dass Papa dich nicht erwischt. Er wird dich suchen.“
„Das werde ich. Grüß bitte Mama und Pascal von mir.“
Für einen Moment nahm er meine Hand und als er sie wieder losließ, spürte ich darin etwas festes Kühles. Es waren ein paar Münzen. Dankbar lächelte ich ihn an. Dann schwang er sich auf seinen Braunen und ritt davon.
Jetzt war ich auf mich gestellt. Ich wusste, dass Etienne Wort halten und mich nicht verraten würde. Was Papa mit mir anstellte, wenn er mich fand, wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Dass er keine Hemmungen hatte mich zu prügeln bis ich tot war, bezweifelte ich nicht. Darum musste ich jetzt noch so weit wie möglich gehen und ein gutes Versteck suchen, wenn der nächste Tag anbrach.
Zuletzt geändert von Sisi Silberträne am 27.01.2007, 01:27:04, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon Kitti » 26.01.2007, 17:19:50

Wie schön, zum Beginn des Wochendes ein neuer Teil! :)

Also erst mal hätte ich erwartet, dass sie diesen arroganten Mistkerl heiraten wird und später dann flieht oder so... Eine gute Idee, sie ausreißen zu lassen. Das macht die Geschichte noch einmal spannender.

Ansonsten toller Stil, man kann sich super in Anne hineinversetzen und verstehen, warum sie flieht.

Weiter so! :) Freue mich schon auf die Fortsetzung!
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Beitragvon Sisi Silberträne » 31.01.2007, 11:44:19

danke fürs Review :)

na ich dachte ich kann sie den nicht heiraten lassen, es sind ja ohnehin schon 2x, die definitiv in die Story rein müssen *nicht mehr verrat* ;)

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Beitragvon Marie Antoinette » 01.02.2007, 19:42:46

Zwei die sie heiraten muss? Das klingt ja interessant! :D

Hab mich gefreut, dass es wieder eine Fortsetzung gibt, ich find sie wieder sehr schön geschrieben. Bin schon gespannt wie es weitergeht!

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Beitragvon Sisi Silberträne » 01.02.2007, 21:55:53

danke fürs Review =)

na ja, einer ist Athos. Und dann Lord Winter, von irgendwo her muss sie den Namen ja haben ^^
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