Ganz oder gar nicht – The full montyOpernhaus Dortmund – Samstag, 22.10.2011,
Premiere, 19.30 UhrDas Stück beginnt mit einem kleinen Überraschungsmoment: Kurz nachdem das Licht im Saal ausging, laufen neben den Reihen laut kreischende junge Damen die Reihen entlang zur Bühne. Auf der Bühne erscheint die Moderatorin der Szene und kündigt den ersten „Chippendale“ an. Der wird in seiner Nummer leider (?) vom Handy unterbrochen und verlässt die Bühne.
Szenenwechsel. Im Werk 18 werden gerade die Arbeiter entlassen, die sich wie Schrott vorkommen. Die nachfolgenden Probleme lassen natürlich nicht auf sich warten: Depressionen, Frustessen, Beziehungsstress, finanzielle Nöte bis him zum drohenden Entzug der Sorgerechte für den Sohn und zum Selbstmordversuch haben alle Rollen ihne verschiedenen Schwierigkeiten.
Die Idee, selber eine Strip-Show auf die Bühne zu bringen, scheint für Jerry Lukowski die einfachste Lösung zu sein, der sein Kumpel Dave Bukatinsky eher widerwillig folgt. Als alle Mitstreiter gefunden sind (und die Pianistin mehrfach laut wird angesichts der miesen Leistungen), ist erstmal Pause.
Ganz nach Daves Erwartungen verkaufen sich die Karten der „Hot Metal“ mehr als schlecht, bis Jerry ankündigt, dass die Jungs wirklich alle Hüllen fallen lassen werden. Sehr zur Überraschung der Mitstreiter, die sich mit Frischhaltefolie, Penis-Pumpe samt Wärmflasche und anderen diversen Maßnahmen für den Auftrittt fit machen wollen. Die Generalprobe vor Bewohnern des Seniorenheims endet mit einem Polizeieinsatz. Die Karten verkaufen sich inzwischen an Männer und Frauen gleichermaßen gut, so dass der Besitzer des Lokals noch eine zweite Show will. Dave hat inzwischen einen „normalen“ Job als Wachmann angenommen, ist aber beim großen Auftritt wieder dabei. Dafür verlässt Jerry der Mut und findet erst durch seinen Sohn auf die Bühne. Im großen Finale lassen sich die Männer echt dazu überreden, hinter dem vorgehaltenen Helm auch den String-Tanga auszuziehen. Dann nehmen sie noch den Helm beiseite... Und in diesem Moment geht (zum Leidwesen vieler Damen im Publikum) das Licht aus.
Die Besetzung:Jerry Lukowski: David JakobsHolla, was war das denn? Antwort: Wahnsinn! Die Show dreht sich hauptsächlich um Jerry. Er spielt fast jede Szene, singt die meisten Lieder und ist die treibende Kraft der Geschichte. Und diese Rolle wird von einem jungen Mann gespielt, der gerade erst sein Musical-Diplom bestanden hat! Aber das merkt man überhaupt nicht! Hätte jemand erzählt, der Kerl hat jahrelange Berufserfahrung, ich hätte es geglaubt! Sämtliche Facetten seiner Rolle, vom verzweifelten Vater, frustriertem Ex-Mann bis zum optimistischen Strip-Show-Organisator kam alles absolut glaubwürdig rüber. Eine schöne Gesangsstimme mit gut verständlicher Aussprache bringt er auch noch mit. Die Entdeckung des Abends! Von dem jungen Mann werden wir noch hören!
Dave Bukatinsky: Patrick StankeWie waren seine Zitate im Ebertbad: zu dick für Radames, zu dünn für Sister Act!? Dann hat er jetzt endlich die passende Rolle gefunden!
Der übergewichtige Dave mit null Kondition und genau soviel Selbstbewusstsein, dafür einiges an Hunger und Aggressionen, wenn man ihn auf sein Übergewicht anspricht, passt optisch 1 A. Schauspielerisch als „Weichei“, der am Ende doch Selbstbewusstsein findet, absolut überzeugend. Klasse gemacht!
Georgie Bukatinsky / Tanzleherein: Sabine RuflairBei ihr als Tanzleherein möchte ich keine Stunden haben! Was für ein Biest. Als Georgie ist sie eine sehr fesche, moderne Frau, von der man sich erstmal fragt, was sie an Dave eigentlich findet. Im Laufe des Stücks wird ihre Liebe zu ihm immer klarer, bis sie ihn am Ende sogar zum Strippen ermuntert. Klasse Entwicklung!
Vicky Nichols / Joanne: Melanie WiegmannIrgendwie hat das Buch bei ihr ein paar Schwierigkeiten: beim Übergang von der Luxus liebenden Ehefrau zur Frau, die ihren Gatten schätzt und unterstützt. Den Übergang gibt es, aber nicht als Entwicklung, sondern als Sprung. Passenderweise stellt sie in ihrem Text fest, dass sie und ihr Mann sich immer noch einander fremd sind. Mir war die andere Seite bis dahin auch fremd. Diesen Sprung hat Melanie jedenfalls bestens auf die Bühne gebracht.
Malcolm: Tim LudwigDas mutlose, hilflose, freundlose Muttersöhnchen schlechthin. Seine Mimik war super passend. Und als großer, schlaksiger Typ wirkte er optisch genial in dieser Rolle, was durch sein Schauspiel und seine hohe Gesangsstimme bestens unterstützt wurde. Toll!
Buddy / Elton / Vortänzer / Marty: Markus SchneiderVom schwulen Chippendale bis zu eine Stripper-Niete und noch ein paar andere Rollen. Seine Aufgaben sind vielseitig und genau so vielseitig gelöst. Es hätten auch mehrere Darsteller sein können, so unterschiedlich hat er alle Rollen dargestellt. Einfach klasse!
Nathan Lukowski / Susan: Tina HaasEine junge Dame spielt den Teenie-Sohn. In den Klamotten mit Kapuzen-Sweatshirt und der Kapuze immer auf dem Kopf (außer in einer Szene, da mit Kurzhaar-Perücke) fällt es optisch nicht auf. Stimmlich auch nicht, wobei Nathan nicht solo singt. So war´s glaubwürdig dargestellt. Gut gemacht.
Harald Nichols / Carl: Dirk WeilerDer Tanz-Experte mit großer Angst vor seiner Frau, die ihn ja so verehrt. Er verheimlicht ihr monatelang, dass er auch arbeitslos ist und lässt sich zunächst nur widerwillig als Strip-Tanzlehrer anwerben. Die zwei Seiten, seiner Frau untertänig und gleichzeitig hoffnungslos, seinen Ex-Mitarbeitern gegenüber den Chef raushängend, bringt er bestens rüber, die Weiterentwicklung seiner Rolle auch. Schön!
Noah „Horse“ / Paul: Frank OdjidjaEin junger Mann spielt einen Rentner mit Hüft-Arthrose, und das absolut überzeugend. So sorgt er mit seinen Bewegungen und gegen Ende besonders mit dem Stoßgebet oft für die Lacher des zweiten Aktes. Genial!
Pam Lukowski: Julia KlotzWas für eine hochnäsige Ziege! Da fragt man sich, wie sie jemals mit Jerry zusammen sein konnte. In seltenen Momenten flackert die Antwort auf, aber dann ist sie wieder die inzwischen bessere Dame, die über das Sorgerecht am gemeinsamen Sohn mittels Geld entscheidet. Und bei allen negativen bringt Julia die Rolle doch etwas sympathisch rüber. Muss man hinkriegen!
Jeanettte / Dolores: Johanna SchoppaDas einzige Cast-Mitglied, das wirklich am Dortmunder Opernhaus beschäftigt ist: Im Opernchor. Leider hat man das gehört: Ihre Aussprache beim Singen war leider schwer verständlich. Ihre Bühnenpräsenz und Stimmgewalt war umso deutlicher! Damit avancierte sie zum heinmlichen Star des Abends!
Estelle: Verena MackenbergIhre Rolle war auch auf der Bühne, aber fast nur mit den anderen Mädels. Solo hatte sie, glaube ich, gar nichts zu tun. Jedenfalls ist es mir nicht aufgefallen.
Ralph / Tony / Gladiator / Teddy / Molly / Inkasso / Priester: Daniel BergerÜber Eintönigkeit kann man sich bei seinen zahlreichen Rollen nicht beklagen. Vielseitiger können die Charaktere echt nicht sein: vom ehrwürdigen, reichen Ehemann, über einen nicht bibelfesten Priester, (fast) gnadenlosen Inkasso-Mann zum Strip-Superstar reicht seine Palette an Charakteren. Und auch hier kann ich nur feststellen, dass es auch 7 Darsteller hätten sein können. Mir ist jedenfalls nicht afgefallen, in welchen Rollen er immer wieder auf der Bühne stand. 1 Arbeit!
Arbeitsloser / Inkasso / Polizist: Erik PetersenDrei raue Charaktere, die trotzdem alle was eigenes hatten. Ich glaube, mehr kann man aus den kurzen Auftritten nicht raus holen.
Die aus 7 Musikern bestehende Band sitzt wörtlich im Graben: Links am Bühnenrand ist mit Ketten ein Bereich abgesperrt. In diesem eng wirkenden Loch spielt die Band, die flotten, harten Nummern mit entsprechend Schung, die ruhigen Songs passend zurücknehmend.
Ohrwürmer sucht man in dem Musical nach einmaligem Besuch vergebens. Überhaupt ist das ganze Stück sehr dialoglastig. Es dauert oft lange, bis wieder ein Lied gesungen wird. Die meisten Lieder singt Jerry, alle anderen Männer haben Solo-Teile in Liedern, die Frauen singen fast nur gemeinsam.
Das Bühnenbild besteht aus der Rückansicht der grauen Werkshalle „Werk 18“, die auch als Club, Probenraum und Straßenzug her hält. Weiter Spielorte, wie die Wohnungen oder die Toilette im Club, werden auf Wagen dargestellt, die von links auf Schienen auf die Bühne fahren. Dazu gibt es einzelne tragbare Kulissenteile, wie der Streifen-Vorhang der „Hot Metal“-Gruppe oder einige Bierkästen (man achte auf die Marken *g*), sowie große herunter fahrende Plakate beider Strip-Gruppen (auf dem der „Hot Metal“ sind echt die 6 Darsteller abgebildet). Insgesamt geben die Bühnenbilder exakt die Stimmung der verschiedenen Orte wieder: grau im Werksbereich, Luxus in Haralds Wohnung, das „von gestern sein“ bei Malcolms Mutter...
Die Kostüme unterstreichen Stimmung und Charaktere bestens. Allein die Auswahl an Unterhosen, als zum ersten Mal die Hosen fallen, sind mehr als passend ausgesucht. Daves Comic-Boxershort oder Noahs Feinripp-Hose Größe XXL sprechen Bände. Klasse!
Fazit: Wer Lust auf 2 ½ Stunden Spaß und gute Unterhaltung hat, sollte sich die Version nicht entgehen lassen! Zum Lachen gibt es auf jeden Fall genug! Aber auch die ruhigen Momente berühren. Und der junge Hauptdarsteller David Jakobs ist das Eintrittsgeld auf jeden Fall wert!
Nur, wer unbedingt splitternackte Männer sehen will, der kommt doch nicht so recht auf seine Kosten...